Umsturzvorlage
Die Umsturzvorlage („Gesetz, betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs, des Militärgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse") war am 5. Dezember 1894 in den Deutschen Reichstag gescheiterte Gesetzesvorlage des Reichskanzlers Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, die nach ihrer Begründung den gefährlichen, auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Verfassung und Gesellschaftsordnung des Deutschen Reiches zielenden Bestrebungen entgegentreten sollte.
Vorgeschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 versuchte die Regierung in Preußen unter dem ab März 1892 amtierenden Ministerpräsidenten Botho zu Eulenburg neue antisozialistische Gesetze durchzusetzen. Auch der Kaiser Wilhelm II. hatte sich unter dem Einfluss von Carl Ferdinand von Stumm-Halberg längst von seinem anfänglichen sozialpolitischen Kurs entfernt.
Eulenburg kündigte am 26. Mai 1894 ein Reichsgesetz gegen „revolutionäre Tendenzen" an. Die hinter den Bestrebungen zum Umsturz stehenden Kräfte waren nach Meinung der Verfasser der Umsturzvorlage insbesondere Sozialdemokraten. Man war der Meinung, dass die bestehenden Gesetze zu deren Bekämpfung nicht ausreichten. Es war allerdings absehbar, dass der Reichstag dem Gesetz nicht zustimmen würde. Die Folge wären dessen Auflösung und Neuwahlen gewesen. Abzusehen war ferner, dass auch ein neuer Reichstag das Gesetz ablehnen würde. Danach sollte ein neues Wahlgesetz erlassen werden, das die gewünschte Mehrheit sicherstellte. Dies war de facto ein Staatsstreichplan von oben. Ganz nebenbei würde man so auch den Reichskanzler Leo von Caprivi loswerden, der ein Sondergesetz ähnlich dem Sozialistengesetz nicht mittragen würde. Am 6. September 1894 rief der Kaiser in einer Rede in Königsberg zum „Kampf für Religion, für Sitte und Ordnung gegen die Parteien des Umsturzes" auf. Caprivi stellte sich dem entgegen und bot seinen Rücktritt an. Der Kaiser versuchte zunächst, ihn zu halten und wandte sich gegen Eulenburg. Dieser aber schaffte es, Wilhelm II. zu überzeugen, dass Caprivi hinter bestimmten Veröffentlichungen über Gespräche zwischen Kanzler und Kaiser stecke. Die Folge war, dass Wilhelm II. am 26. Oktober 1894 sowohl Caprivi als auch Eulenburg entließ.[1] [2]
Parlamentarischer Verlauf
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Reichskanzler von Caprivi hatte sich dem Vorschlag eines erneuten gesetzlichen Vorgehens gegen die Sozialdemokratie nicht völlig zu verschließen vermocht. Angesichts des Regierungswechsels im Reich und Preußen wurde eine von ihm verantwortete entsprechende Vorlage, auf welcher der Kaiser hartnäckig bestand, jedoch erst am 5. Dezember 1894 durch den neuen Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst in den Deutschen Reichstag eingebracht.
Die Umsturzvorlage wurde vom 8. bis 12. Januar 1895 im Reichstag in erster Lesung beraten und vor allem von der Sozialdemokratie und den linksliberalen Parteien mit großer Entschiedenheit bekämpft, da die Satzungen zu unbestimmt und die Eingriffe in die Pressefreiheit und selbst die Freiheit der Wissenschaft als zu groß erschienen. Nachdem das Zentrum gefordert hatte, die Strafandrohung auf Angriffe gegen Religion und Kirche auszuweiten, wurde die Vorlage nun von nahezu allen Parteien abgelehnt. In der Öffentlichkeit kam es zu einem Proteststurm gegen die „Umsturzvorlage". An einer der zahlreichen Erklärungen gegen sie beteiligte sich auch Max Weber.[3]
Am 11. Mai 1895 wurde die Umsturzvorlage im Reichstag in Zweiter Lesung endgültig zurückgewiesen.
Folgen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Das sogenannte „Kleine Sozialistengesetz" in Preußen aus dem Jahr 1897 und die Zuchthausvorlage (eigentlich „Gesetz zum Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnisses") aus dem Jahr 1899 waren letzte Versuche, den Aufstieg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung mit gesetzlichen Mitteln aufzuhalten.[4] Die Reichsregierung änderte in der Folge ihren Kurs und verstärkte an Stelle der Repressionspolitik die staatliche Sozialpolitik.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- Umsturz und Sozialdemokratie. Zweite Berathung der Umsturz-Vorlage. Verhandlungen des Deutschen Reichstags vom 8. bis 11. Mai 1895 nach dem offiziellen stenographischen Bericht. Verlag der Expedition des „Vorwärts", Berlin 1895
- Max Liebermann von Sonnenberg: Reichstagsrede zur Umsturzvorlage am 12. Januar 1895. Beyer, Leipzig 1895.
- Ludwig Quidde; Michael Georg Conrad: Wetterleuchten der Reaction. Zwei Betrachtungen über die Umsturzvorlage. Staegmeyr, München 1895.
- Normannus: Im Namen der Gerechtigkeit! Kritik der Umsturz-Vorlage. Taendler, Berlin 1895.
- Wilhelm Baumm: Die Willensfreiheit und der Streit um die Umsturzvorlage. E. Thielmann, Kreuzburg O.-S. 1895. Digitalisat
- Umsturzvorlage und Revolution. Von einem Volksfreund. Kracht, Berlin 1895.
- Wilhelm Giese Kritik der Umsturzvorlage. Walther, Berlin 1895.
- Heinrich Rody: Die moderne Litteratur in ihren Beziehungen zu Glaube und Sitte. Randglossen zur Umsturz-Vorlage. Kirchheim, Mainz 1895.
- Arthur Elican: Gläubige Wissenschaft. Neue Beiträge zur Begründung der Umsturzvorlage. In: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. Jg. 13 (1894/1895), 2. Bd. (1895), Heft 29, S. 81–89. Digitalisat
- Advocatus: Der Umsturz des Strafrechts. Juristische Glossen zur Umsturzvorlage. In: Die neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. 13.1894–95, 1. Bd. (1895), Heft 25, S. 780–787. Digitalisat
- Berthold: Die Wissenschaft, die Umsturzvorlage und Ferdinand Lassalle. In: Der Sozialistische Akademiker. 1. Bd. (1895), Heft 4, 1895, S. 70–73. Digitalisat
- Eugen Heinrich Schmitt: Herodes oder Gegen wen ist die Umsturzvorlage gerichtet? Ein Denkmal der Reaktion des 19. Jahrhunderts. Jansen, Leipzig 1895.
- Franz Mehring: Zur Genesis der Umsturzvorlage. In: Die neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens. 13.1894–95, 1. Bd. (1895), Heft 20, S. 609–614. Digitalisat
- Das Gesetz wider die bürgerliche Freiheit, genannt Umsturzvorlage. Nebst Anhang: 1) Die Umsturzvorlage der Regierung. 2) Die Umsturzvorlage in der Kommissionsfassung. Gebrüder Fey, Frankfurt a. M. 1895.
- Umsturz und Sozialdemokratie. Verhandlungen des Deutschen Reichstags vom 8.–11. Mai 1895 nach dem offiziellen stenographischen Bericht. 2. Beratung der Umsturz-Vorlage. 3. Teil. Bollwerk Verlag K. Drott, Offenbach a. M. 1947 (= Demokratie und Sozialismus. Sozialistische Dokumente. 13).
- Kurt Adamy: Aus August Bebels revolutionärer Parlamentsarbeit. Zur Tätigkeit August Bebels in der VI. Kommission des Reichstages zur Beratung der „Umsturzvorlage". In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Berlin 1967, Heft 2, S. 248–257.
- Walter Wittwer: Vom Sozialistengesetz zur Umsturzvorlage. Zur Politik der preußisch-deutschen Regierung gegen die Arbeiterbewegung 1890 bis 1894. Zentralinstitut für Geschichte, Berlin 1983 (= Studien zur Geschichte. 2).
- Peter Mast: Künstlerische und wissenschaftliche Freiheit im Deutschen Reich 1890–1901. Umsturzvorlage und Lex Heinze sowie die Fälle Arons und Spahn im Schnittpunkt der Interessen von Besitzbürgertum, Katholizismus und Staat. 2. Aufl. Schäuble, Rheinfelden 1986 (= Historische Forschungen, 17). ISSN 0933-3967 (Teilw. zugl.: München, Univ., Diss., 1978).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- Entwurf eines Gesetzes, betreffend Aenderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs, des Militärgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse (Drucksache 49)
- Bericht der VI.Kommission (...) (Aktenstück Nr. 273)
- Antrag Theodor Barth (Aktenstück 296)
- Antrag von Bernhard Bohtz und Genossen (Aktenstück 298)
- Antrag von Levetzow, Otto von Manteuffel und Julius von Mirbach (Aktenstück 299)
- Antrag von Conrad Haußmann, Julius Lenzmann, August Munckel, Albert Traeger (Aktenstücke 310 und 311)
- Erste Beratung des Entwurfs betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs, des Militärgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse. Sitzungen des Reichstages
- Zweite Beratung des Entwurfs betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuchs, des Militärgesetzbuchs und des Gesetzes über die Presse. sitzungen des Reichstages
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- ↑ Nipperdey, Machtstaat, S. 707f., R. Geis: Der Sturz des Reichskanzlers Caprivi, 1930 (= Historische Studien, Band 192), Metze, S. 52.
- ↑ Bericht aus der halbamtlichen Neuesten Mittheilungen vom 30. Oktober 1894
- ↑ Erklärung gegen die Umsturzvorlage. In: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff. 1895, abgerufen am 25. Januar 2025.
- ↑ Zum Text der Zuchthausvorlage und weiteren Quellentexten hierzu vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, III. Abteilung: Ausbau und Differenzierung der Sozialpolitik seit Beginn des Neuen Kurses (1890-1904), 4. Band, Arbeiterrecht, bearbeitet von Wilfried Rudloff, Darmstadt 2011, S. 272, 288–292, 303–305, 310–325, 336–343, 346–353, 458, 546.