Tabulae Herculanenses

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Die Tabulae Herculanenses (abgekürzt: TH) sind 160 im kampanischen Herculaneum entdeckte Wachstafeln (tabulae ceratae) privat- und prozessrechtlichen Inhalts. Sie sind in Latein verfasst und stammen aus der klassischen Zeit des Prinzipats. Entdeckt und ausgegraben wurden die zwischen 60 und 71 n. Chr. gefertigten Dokumente bei Ausgrabungen in den 1930er und 1940er Jahren.[1]

Historische Einordnung

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Das Wachstafelarchiv wurde beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. verschüttet und blieb deshalb erhalten. Erstmals ediert wurden die Tabulae Herculanenses 1946–1961 von Vincenzo Arangio Ruiz und Giovanni Pugliese Carratelli im Journal Parola del Passato, eine Neuedition gab Giuseppe Camodeca 2017 heraus.

Vergleichbare Wachstafelfunde sind aus den bei demselben Vulkanausbruch verschütteten Städten Pompeji (Täfelchen des Caecilius Iucundus) und aus Murecine (Tabulae Pompeianae novae) bekannt. Sie geben Auskunft über die römische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, insbesondere über die Rechtsgepflogenheiten, in eigener Sache aber auch – und wichtig für die Geschichtsschreibung – über onomastische Befassungen und eponyme Konsuln (fasti consulares). Einzelheiten sind dabei in Punkten umstritten.

Die herculanesischen Tafeln bieten anschauliche Informationen über den römischen Rechtsalltag. Insbesondere sind sie hilfreich bei der Überprüfung, ob gesetzliche Voraussetzungen eingehalten und Sanktionen bei Zuwiderhandlungen durchgesetzt wurden. In Auszügen: Augustus hatte mit der lex Aelia Sentia ein halbes Jahrhundert vor Erstellung der Tafeln Restriktionen in der Freilassungspolitik angeordnet und zu dem Zweck massive Einschränkungen in Bürgerrechtsfragen eingeführt. Das Dokumentationsbedürfnis der Tafeln legt nahe, dass die Anweisungen der lex penibel und zielgenau eingehalten wurden.[2]

Wertvolle Hinweise geben sie auch – in Ergänzung zu papyrologischen Belegen – zur dokumentarischen Praxis einer sehr häufig in Rom behandelten Problematik, der Vermögensweitergabe von Todes wegen. Ausführlich werden zahlreiche Förmlichkeiten beschrieben, deren Einhaltung sorgsam überwacht wurden. Insbesondere galt das für das Antragswesen, bevor der Bedachte prätorische oder prokonsularische Besitzeinweisungen, sei es aufgrund Testaments, sei es aufgrund gesetzlicher Erbfolge, erfahren durfte (bonorum possessio secundum tabulas). Anträge (agnitiones)[3] waren in Latein und mit Bittcharakter abzufassen.[4] Fristen waren stringent einzuhalten, sofern nicht unverschuldete Unkenntnis über Umstände des Erbfalls den Lauf ausnahmsweise hemmte (tempus utile). Rechtsunkenntnisse hingegen schadeten.[5]

In verfahrensrechtlicher Hinsicht erwähnenswert sind zudem die Bestimmungen zur gerichtlichen Vorladung (vadimonium Romam),[6] die Stellung von Identitätszeugen für die gerichtlichen oder außergerichtlichen Untersuchungen (cognitoris datio)[7] und die Befragung (interrogatio) von Augenzeugen.[8] Einzelheiten zu Finanzgeschäften, wie Litteralverträgen (nomina arcaria), Schuldanerkenntnissen und mündlichen Darlehensverträgen (mutua cum stipulatione) sind ebenfalls dokumentiert.[9]

  1. Vgl. Giovanni Pugliese Carratelli: Tabulae Herculanenses I. In: La Parola del Passato. Band 1, 1946, S. 379–385; derselbe: Tabulae Herculanenses II. In: La Parola del Passato. Band 3, 1948, S. 165–184; derselbe: Tabulae Herculanenses III. In: La Parola del Passato. Band 8, 1953, S. 458–460.
  2. TH 89+5+99; beispielsweise konnte das Bürgerrecht aufgrund des Nachweises eines einjährigen Kindes erworben werden: anniculi causae probatio ex lege Aelia Sentia.
  3. Mit einer agnitio wurde seitens des Antragstellers auch die behördliche Zuständigkeit anerkannt; vgl. Otto Eger: Agnitio bonorum possessionis vom Jahre 249 p. C. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 32, Heft 1, 1911, S. 378–382.
  4. Ludwig Mitteis: Aegyptische Urkunde, betreffend die agnitio bonorum possessionis. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung), Band 22, Heft 1, 1901, S. 198–199.
  5. Zu den Förmlichkeiten und Fristen, vgl. Ulpian, Ad edictum libri LXXXIII in Digesten 38, 9, 1, 8 und 12; Iulian 28 Digestorum libri XC, in Digesten 38, 15, 4, 1; Papinian 6 Responsorum libri XIX, in Digesten 38, 8, 9, 1.
  6. TH 6; hierzu Wolfgang Kunkel, in: Akten des VI. Internationalen Kongresses für Griechische und Lateinische Epigraphik. München 1972, 1973. S. 209–214.
  7. TH D05.
  8. TH 77+78+80+53+92.
  9. Zu den Litteralverträgen: TH 70+71E; zu den Schuldanerkenntnissen: TH 42+44; zu den Darlehensverträgen: TH A7.
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