Regretting motherhood
Seitenversionsstatus
Dies ist eine gesichtete Version dieser Seite
Regretting motherhood (deutsch: „Bedauern der Mutterschaft") beschreibt den anhaltenden Zustand, in dem Frauen bedauern, Mütter geworden zu sein, und die Rolle als Mutter negativ erleben. Dieser Begriff wurde 2015 von der israelischen Soziologin Orna Donath geprägt, die in ihrer Studie Regretting Motherhood: A Sociopolitical Analysis diese Thematik erstmals systematisch und soziologisch in einem wissenschaftlichen Kontext analysierte.[1]
Gesellschaftliche und kultureller Rahmen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Im 19. Jahrhundert entstand in Westeuropa das Leitbild der nicht erwerbstätigen Mutter, für die die Mutterschaft, die Kindererziehung und die Haushaltsführung die zentralen Lebensaufgaben darstellen. Diese Vorstellungen sind auch heute noch präsent. Frauen, die sich diesem Ideal nicht anpassen, werden häufig stigmatisiert. Sie werden entweder als Rabenmütter bezeichnet, wenn sie erwerbstätig bleiben, oder als unproduktiv, wenn sie zuhause bleiben.[2]
In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde die Mutterschaft im westlichen Deutschland als Essenz der Weiblichkeit betrachtet. Die gesellschaftliche Norm sah vor, dass Frauen verheiratet waren, ihren Beruf nach der Geburt ihres ersten Kindes aufgaben und ihre gesamte Energie in die Erziehung und Versorgung der Kinder investierten. Dabei wurde die Mutterrolle mit Tugenden wie Fürsorglichkeit und Selbstaufopferung idealisiert, was Frauen auf ihre Funktion innerhalb der Familie reduzierte. Wer nicht diesem Rollenbild entsprach, wurde gesellschaftlich ausgegrenzt.[3]
Mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1970er- und 1980er-Jahren kam es zu einer Veränderung des traditionellen Mutterbildes. Das Drei-Phasen-Modell bot eine neue Perspektive dahingehend, dass Frauen zunächst eine gute Ausbildung abschließen und bis zur Geburt des ersten Kindes berufstätig sein sollten. Daraufhin folgt eine Familienphase, in der sie sich intensiv um die Erziehung der Kinder kümmern sollten, bevor sie schließlich in den Arbeitsmarkt zurückkehren konnten. Dieses Modell versuchte, die Wünsche vieler Frauen nach beruflicher Selbstverwirklichung und einer aktiven Rolle in der Familie in Einklang zu bringen. Es zeigte jedoch auch, wie schwierig es war, die Mutterrolle mit den individuellen Karrierezielen zu vereinen, da gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen oft unzureichend auf diese Veränderungen reagierten.[3]
In der heutigen Zeit gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Rollenmodellen, die die Mutterrolle auf vielfältige und individuelle Weise prägen. Immer mehr Frauen verbinden ihre Mutterschaft mit beruflichen Verpflichtungen und stehen vor der Herausforderung, Beruf und Familie in Einklang zu bringen. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter sind dabei nach wie vor komplex und reichen von traditionellen Vorstellungen von Fürsorglichkeit bis hin zu modernen Ansprüchen an persönliche Entfaltung und beruflichem Erfolg.[4]
Laut einer deutschen Studie von YouGov aus dem Jahr 2015, gaben 20 % der insgesamt 2045 befragten Eltern an, dass sie die Entscheidung, Kinder zu bekommen, bereuen.[5]
Das Bedauern der Mutterschaft ist aufgrund der gesellschaftlichen Erwartungshaltung und Normen, die Frauen in ihrer Mutterrolle zugeschrieben werden, weiterhin ein Tabuthema. Vor allem die Erwartung, die Mutterschaft mit der Karriere, der persönlichen Weiterentwicklung und dem äußeren Erscheinungsbild zu vereinen, stellt viele Frauen vor Herausforderungen. Fehlende Unterstützung durch den Partner, der Familie oder gesellschaftlichen Institutionen, kann dazu führen, dass die Frauen ihre Entscheidung zur Mutterschaft bereuen.[6] Hinsichtlich der Karriere zeigt sich, dass Mütter deutlich häufiger berichten, dass sich die Elternschaft negativ auf ihre berufliche Karriere ausgewirkt hat.[7] Des Weiteren können auch innere Faktoren, wie ein erlebtes Kindheitstraumata, eigene Bindungserfahrungen oder individuelle Merkmale, wie ein ausgeprägtes Autonomiebedürfnis, mögliche Risikofaktoren für das Bedauern der Mutterschaft sein. Ebenso sind transgenerationale Thematiken, wie beispielsweise Verlusterfahrungen, mögliche Risikofaktoren.[8]
Durch die Medien werden häufig stereotype Bilder von Mütter gezeigt, die mühelos die Kinderbetreuung, den Haushnalt sowie ihren Beruf vereinen. Diese Darstellungen setzen viele Frauen unter Druck, einem bestimmten Ideal entsprechen zu müssen.[9]
Studie zu Regretting motherhood
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Der Begriff Regretting motherhood wurde durch eine Studie von Orna Donath geprägt. Die Untersuchung basiert auf insgesamt 23 durchgeführte Interviews, die zwischen 2008 und 2011 mit israelischen Müttern durchgeführt wurden. Die Soziologin Donath wählte nur Frauen aus, die auf die Frage „Wenn Sie die Zeit zurückdrehen könnten, mit Ihrem heutigen Wissen und Ihrer Erfahrung, würden Sie dann nochmal Mutter werden?" mit einem klaren Nein antworteten.[1]
Stichprobe
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Ursprünglich wurden 28 Frauen für die Studie ausgewählt, von denen jedoch fünf ausgeschlossen wurden, da sie keine Reue über ihre Mutterschaft äußerten. Die Teilnehmerinnen wurden über Online-Foren, Mundpropaganda und die Schneeballmethode rekrutiert. Das Alter der Frauen lag zwischen Mitte 20 und Mitte 70 Jahre, wobei fünf von ihnen bereits Großmütter waren. Alle Teilnehmerinnen waren jüdisch, wobei sie sich in ihrer religiösen Zugehörigkeit unterschieden. Fünf bezeichneten sich als Atheistinnen, zwölf als säkular, drei als Angehörige verschiedener religiöser Gemeinschaften und drei gaben an, eine hybride religiöse Identität zu haben. Die Frauen stammten aus verschiedenen sozioökonomischen Schichten und ethnischen Hintergründen. Sieben ordneten sich der Arbeiterklasse zu, vierzehn der Mittelschicht und zwei der Oberschicht. Sechzehn waren aschkenasischer, vier mizrachischer und drei gemischter Herkunft. Die Teilnehmerinnen hatten zwischen einem und vier Kinder im Alter von einem bis 48 Jahren. Acht von den Frauen waren verheiratet oder in einer Partnerschaft, vierzehn geschieden oder getrennt und eine verwitwet. Zwanzig Frauen waren berufstätig oder hatten zuvor gearbeitet, drei waren nicht erwerbstätig.[1]
Datenerhebung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Die Daten wurden mittels Interviews erhoben, bei denen die Teilnehmerinnen ihre individuellen Erlebnisse und Empfindungen schildern konnten. Durch gezielte Interviewfragen bekam die Autorin Einblicke in die Komplexität der Mutterschaftsreue. Da dies ein sehr sensibles Thema darstellt, fanden die Interviews in einem geschützten und vertrauensvollen Rahmen, wie beispielsweise bei den Teilnehmerinnen zu Hause, statt. Die Auswertung dieser qualitativen Daten erfolgte in Form einer interpretativen und thematischen Analyse, wobei die Aussagen der Teilnehmerinnen kategorisiert wurden. Dadurch konnten wiederkehrende Muster und zentrale Themen identifiziert werden.[1]
Ergebnisse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Alle befragten Frauen teilen nach eigenen Angaben das ausgeprägte Gefühl, in ihrer Rolle als Mutter gefangen zu sein. Die Frauen gaben an, dass sie ihre Kinder liebten, es aber gleichzeitig hassten, Mütter zu sein. Einige der Frauen sagten aus, dass sie die Mutterschaft bereits in der Schwangerschaft bereut hätten, das Empfinden der Reue wird von ihnen insofern nicht auf die Entwicklung der Kindespersönlichkeit zurückgeführt. Ein geäußerter Grund für die Reue war das Gefühl, durch die Mutterschaft persönliche Freiheit, Selbstbestimmung und Kontrolle über das eigene Leben verloren zu haben. Einige Teilnehmerinnen berichteten, dass sie sich in der Mutterschaft nicht wiederfanden und sie durch gesellschaftliche Normen und Erwartungen in diese Rolle gedrängt wurden. Trotz dieser negativen Gefühle nannten die Frauen auch positive Aspekte der Mutterschaft, wie die persönliche Reife, bereichernde Erfahrungen und soziale Akzeptanz in der israelischen Gesellschaft.[1]
Die Studie im Kontext der wissenschaftlichen Forschung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Andere Studien bestätigen, dass das Ausbleiben von Glücksgefühlen nach einer Entbindung nichts Ungewöhnliches ist: 10 bis 20 Prozent aller Wöchnerinnen leiden unter postpartalen Stimmungskrisen, einige von ihnen sogar an Depressionen. Diese Missstimmungen sind allerdings zumeist nicht so nachhaltig wie die Reuegefühle, von denen Donath berichtet.
W. Keith Campbell und Jean Twenge entdeckten bereits 2003 bei der Auswertung von 97 Studien zum Thema Elternschaft die folgende Entwicklung: Wer Kinder bekommt, sei in den ersten Jahren durchschnittlich unglücklicher als Kinderlose. In der Grundschulzeit gebe es ein kurzes Hoch, das zur Pubertät wieder absinke. Erst wenn die Kinder aus dem Haus seien, seien Eltern glücklicher als Gleichaltrige ohne Nachwuchs.[10]
Diese Beobachtung machten auch Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in einer Studie, der die Daten von 200.000 Erwachsenen aus 86 Staaten zugrunde lagen. Ab dem Alter von 40 Jahren bedeuten demnach Kinder mehr Lebensglück. Je mehr Kinder jemand habe, desto höher sei das Glücksempfinden, allerdings erst dann, wenn sie nicht mehr kleine Kinder haben. Ein durchschnittlich höheres „Glückslevel" als bei lebenslang Kinderlosen sei bei Eltern von vier und mehr Kindern allerdings nicht festzustellen, auch nicht in fortgeschrittenem Alter.[11] Eine Studie, für die die gleichen Autoren mehr als 2000 deutsche Teilnehmer befragten, kam zu folgenden Resultaten: Nach der Geburt des ersten Kindes erlebten 70 % der Eltern eine Verringerung ihrer Lebensqualität, bei mehr als einem Drittel der Eltern stürzte der auf einer Skala von 0 (völlig unzufrieden) bis 10 (völlig zufrieden) ermittelte Wert um 2 oder mehr Punkte ab, stärker als das im Durchschnitt bei Schicksalsschlägen wie dem Tod des Partners ermittelt wird.[12]
Rezeption der Studie in der Öffentlichkeit
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Donaths Studie „Regretting Motherhood" erhielt besonders in Deutschland viel Aufmerksamkeit und löste eine lebhaft geführte Debatte aus, vor allem unter dem Twitter-Channelnamen „#regrettingmotherhood".[13] An Frauen wird gesellschaftlich eine Rollenerwartung gerichtet. Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen, werden als kaltherzig wahrgenommen.[14]
Ihren Roman Mädchen für alles bezeichnet die Autorin Charlotte Roche ausdrücklich als Verarbeitung der Studie "Regretting Motherhood".[15]
Der Tectum Verlag bewirbt das im Herbst 2015 erschienene Sachbuch „Mütterterror. Angst, Neid und Aggressionen unter Müttern" von Christina Mundlos mit den Worten: Zu den Hintergründen von „Regretting Motherhood": »Die Autorin über die fatale Wahl zwischen Rabenmutter und Superglucke: Schluss mit dem schlechten Gewissen!« (EMMA).[16]
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- Orna Donath: Regretting Motherhood: A Sociopolitical Analysis. In: SIGNS: Journal of Women in Culture and Society . Vol. 40, Nr. 2, 2015, ISSN 0097-9740 , S. 343–367, doi:10.1086/678145 (Online-Version).
- Orna Donath: Regretting Motherhood: Wenn Mütter bereuen. Knaus, 2016, ISBN 978-3-8135-0719-5.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- Esther Göbel: Unglückliche Mütter. Sie wollen ihr Leben zurück. Süddeutsche Zeitung . 5. April 2015
- Ich fühle mich gefangen im Käfig der Mutterschaft. Die Welt . 15. April 2015
- Birgit Kelle: Werdet endlich erwachsen! Warum #regrettingmotherhood Selbstmitleid ist. The European . 20. April 2015
- Ralf Batke: Trügerischer Kindersegen? Mit ihrer Studie über unglückliche Mütter sorgt Orna Donath für Wirbel. Jüdische Allgemeine . 23. April 2015
- Orna Donath. „Regretting Motherhood"-Autorin erstaunt über Medien-Hype. Berliner Zeitung . 5. Mai 2015
- Anna-Mareike Krause / Michael Stürzenhofecker: Mutterschaft im Wandel – Alles gut zum Muttertag?. Tagesschau.de . 10. Mai 2015
- Sabrina Sailer: Lesesammlung zu veröffentlichten Beiträgen. http://www.vereinbarkeitsblog.de, 20. Juni 2016
- Colombe Schneck: Kinderlos, meine Wahl. . Originaltitel: Femmes sans enfants, femmes suspectes. Dokumentarfilm, in der die Regisseurin das Lebenskonzept dreier Frauen, u. a. Orna Donaths, vorstellt. Frankreich 2014
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- ↑ a b c d e Regretting Motherhood: A Sociopolitical Analysis. Abgerufen am 14. Januar 2025.
- ↑ Historische und interkulturelle Variabilität von Mutterschaft - Konsequenzen für die Gegenwart. Abgerufen am 17. Januar 2025.
- ↑ a b Mütter. Abgerufen am 25. Januar 2025.
- ↑ Mütter heute: Leitbilder, Lebensrealitäten und Wünsche. Abgerufen am 25. Januar 2025.
- ↑ "Regretting Parenthood": Wenn Eltern ihre Kinder lieben - das Kinderkriegen aber bereuen. Abgerufen am 16. Januar 2025.
- ↑ Wenn Mütter bereuen, dass sie Kinder bekommen haben. Abgerufen am 16. Januar 2025.
- ↑ Ein Fünftel der deutschen Eltern bereut die Elternschaft. Abgerufen am 25. Januar 2025.
- ↑ Wenn Frauen ihre Mutterschaft bereuen. Abgerufen am 17. Januar 2025.
- ↑ Mütter: Ein Blick auf Medien, Normen und Gesellschaft. Abgerufen am 17. Januar 2025.
- ↑ W. Keith Campbell / Jean Twenge: Parenthood and Marital Satisfaction: A Meta-Analytic Review. Journal of Marriage and Family. Bd. 65 (August 2003) S. 574–583
- ↑ Mikko Myrskylä: Elternschaft: Langzeitinvestition ins Glück. Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung. 7. März 2011; Originalpublikation: R. Margolis und M. Myrskylä, A global perspective on happiness and fertility, in: Population and Development Review, Jg. 37.2011, S. 29–56 (Abstract)
- ↑ Thilo Neumann, Nach dem ersten Kind haben viele Eltern genug, FAZ online, 13. August 2015; Macht das erste Kind unglücklich, gibt es seltener Geschwister, Der Standard online, 5. August 2015; Susanne Baller, Elternwerden macht unglücklicher als der Tod des Partners, stern.de, 14. August 2015; Originalpublikation: R. Margolis und M. Myrskylä, Parental well-being surrounding first birth as a determinant of further parity progression, in: Demography, Jg. 52.2015, S. 1147–1166 (Abstract)
- ↑ Debatte um #Regrettingmotherhood „Rückblickend hätte ich auf Kinder verzichtet" - Darf eine Mutter so was sagen?. focus.de. 6. Mai 2015
- ↑ Violetta Hagen: In der Mutterrolle gefangen. Stuttgarter Zeitung. 23. April 2015
- ↑ „Mädchen für alles" von Charlotte Roche – Neuer Roman mit neuem Tabuthema. Stern.de . 5. Oktober 2015
- ↑ Tectum Verlag: Tectum Sachbuch Herbst 2015