Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie
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Das Hierarchische Taxonomiesystem der Psychopathologie (HiTOP)-Konsortium wurde 2015 als eine basisnahe Initiative gegründet, um eine Klassifikation von psychischen Gesundheitsproblemen zu entwickeln, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber basiert, wie die Komponenten psychischer Störungen zusammenhängen.[1]
Das Konsortium arbeitet an der Entwicklung des HiTOP-Modells, eines Klassifikationssystems bzw. einer Taxonomie psychischer Störungen oder Psychopathologien, das wissenschaftliche Ergebnisse über traditionelle Konventionen und klinische Meinungen stellt. Ziel dieser Klassifikation ist es, die klinische Praxis und die psychologische Forschung zu unterstützen.
Das Konsortium wurde von Dr. Roman Kotov, Dr. Robert Krueger und Dr. David Watson ins Leben gerufen. Bei seiner Gründung umfasste es 40 Psychologen und Psychiater, die bedeutende wissenschaftliche Beiträge zur Klassifikation von Psychopathologie geleistet haben.[2]
Das HiTOP-Modell soll die Einschränkungen traditioneller Klassifikationssysteme für psychische Erkrankungen, wie das DSM-5 und die ICD-10, überwinden, indem es Psychopathologie basierend auf Forschungsergebnissen zu beobachtbaren Mustern psychischer Gesundheitsprobleme organisiert.
Wenn das HiTOP-Modell vollständig entwickelt ist, wird es ein detailliertes hierarchisches Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen bilden. Dieses beginnt bei den grundlegendsten Bausteinen und erstreckt sich bis zur höchsten Ebene der Allgemeinheit:
- Einzelne Anzeichen und Symptome werden zu eng gefassten Komponenten oder Traits zusammengefasst.
- Diese Symptomkomponenten und Traits werden dann weiter gruppiert – mit zunehmender Allgemeinheit – in Syndrome, Subfaktoren, Spektren und schließlich Superspektren.
Derzeit sind mehrere Aspekte des Modells noch vorläufig oder unvollständig.
Geschichte der quantitativen Klassifikationsbewegung durch HiTOP
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Im Laufe der Geschichte der psychiatrischen Klassifikation wurden zwei Ansätze verfolgt, um den Inhalt und die Grenzen psychischer Störungen festzulegen, die in offizielle diagnostische Systeme aufgenommen werden.
Der erste Ansatz kann als autoritativer Ansatz bezeichnet werden: Experten und Mitglieder offizieller Gremien treffen sich, um Klassifikationssysteme durch Gruppendiskussionen und damit verbundene politische Prozesse zu bestimmen. Dieser Ansatz prägt traditionelle Klassifikationssysteme wie das DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) und die ICD (Internationale Klassifikation der Krankheiten).[3]
Ein zweiter Ansatz kann als empirischer Ansatz bezeichnet werden. Bei diesem Ansatz werden Daten zu den grundlegenden Bausteinen der Psychopathologie gesammelt und anschließend analysiert, um spezifische Forschungsfragen zu beantworten.
Ein Beispiel für eine solche Forschungsfrage wäre: Definiert eine bestimmte Liste von Symptomen eine einzelne psychopathologische Einheit oder mehrere separate Einheiten?
Dieser Ansatz wird oft als „Bottom-up"-Methode beschrieben, da er mit rohen Beobachtungen beginnt und daraus diagnostische Konzepte ableitet. Dies steht im Gegensatz zum „Top-down"-Ansatz offizieller Klassifikationssysteme wie DSM und ICD, bei denen zunächst ein allgemeines klinisches Konzept festgelegt und dann die Symptome bestimmt werden, die es definieren sollen.
Obwohl diese Ansätze unterscheidbar sind, sind sie nicht vollkommen voneinander trennbar. In beiden ist sowohl ein gewisser Grad an Empirie als auch an Expertenautorität unvermeidlich vorhanden. Beispielsweise haben autoritative Klassifikationsansätze stets empirische Methoden zur Untermauerung ihrer Konstruktion genutzt, während ein empirischer Ansatz immer auch die Expertise erfordert, um relevante psychopathologische Bausteine zusammenzustellen und zu bewerten.
Trotzdem neigen autoritative Ansätze dazu, Fachwissen, disziplinären Hintergrund und Tradition stark zu gewichten. Das HiTOP-Konsortium verfolgt primär einen empirischen Ansatz, doch wurde argumentiert, dass das HiTOP-Modell teilweise auch autoritativ sei, da es auf einer traditionellen, jedoch willkürlichen statistischen Methode basiert.
Die empirische Klassifikationsbewegung hat eine lange Geschichte, beginnend mit den Arbeiten von Thomas Moore, Hans Eysenck, Richard Wittenborn, Maurice Lorr und John Overall. Diese Wissenschaftler entwickelten Instrumente zur Bewertung von Zeichen und Symptomen bei psychiatrischen Patienten und identifizierten durch Faktorenanalysen empirische Dimensionen der Symptomatik. Andere Forschungen nutzten Verfahren wie die Clusteranalyse, um natürliche Kategorien psychischer Störungen zu entdecken
Der jüngste große Versuch, eine empirisch basierte Klassifikation zu entwickeln, begann im Frühjahr 2015. Vierzig Wissenschaftler aus dem Bereich der Psychopathologie-Klassifikation gründeten ein Konsortium, das mittlerweile auf über 160 Mitglieder und 10 Arbeitsgruppen angewachsen ist. Ziel war die Entwicklung eines evidenzbasierten Klassifikationssystems für psychische Erkrankungen.
Das vorgeschlagene Modell, die Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie (HiTOP), stellt eine bedeutende Abweichung von DSM und ICD dar. Es basiert auf strukturellen Studien, die sich über das gesamte Altersspektrum von 2 bis 90 Jahren erstrecken und Stichproben aus vielen nicht-westlichen Gesellschaften umfassen. Allerdings sind westliche Stichproben in dieser Forschung immer noch überrepräsentiert, und es gibt nur wenige Studien zu Menschen über 60 Jahren. Zudem berücksichtigt das HiTOP-Modell nicht die individuellen Entwicklungsprozesse, die zu verschiedenen psychischen Störungen führen könnten.
Um HiTOP kontinuierlich an neue strukturelle und Validierungsstudien anzupassen, wurde eine Revisionsarbeitsgruppe gegründet. Diese Gruppe hat einen Prozess für eine fortlaufende evidenzbasierte Revision des Modells entwickelt. Dieser soll flexibel genug sein, um mit der rasch wachsenden Literatur zur Psychopathologie Schritt zu halten, jedoch nicht so unbeständig, dass zu viele Änderungen ohne ausreichende empirische Grundlage erfolgen.
HiTOP Struktur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Fundamentale Erkenntnisse die das HiTop Modell prägen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- Psychopathologie lässt sich besser durch Dimensionen als durch diskrete Kategorien beschreiben.
- Psychische Merkmale existieren auf einem Kontinuum (z. B. soziale Angst reicht von Komfort in sozialen Interaktionen bis zu schwerem sozialem Unbehagen).
- Eine dimensionale Beschreibung verbessert die Zuverlässigkeit der Diagnosen und macht unspezifische oder unklare Diagnosen überflüssig.
- Dennoch könnten einige psychische Störungen tatsächlich diskrete Einheiten sein, falls dies empirisch belegt wird. Deshalb enthält der Modellname nicht explizit das Wort "dimensional", um Offenheit gegenüber Belegen für diskrete Kategorien zu signalisieren.
- Die natürliche Organisation der Psychopathologie lässt sich durch das gemeinsame Auftreten von Symptomen erkennen.
- Symptome, die häufig gemeinsam auftreten, werden in dieselben Dimensionen eingeordnet.
- Solche Dimensionen erfassen auch gemeinsame genetische Risikofaktoren, Biomarker und Behandlungsreaktionen.
- Psychopathologie kann hierarchisch organisiert werden.
- Zahlreiche Studien zeigen, dass spezifische psychopathologische Dimensionen zu allgemeiner gefassten Faktoren aggregiert werden können.
- Komorbidität lässt sich durch höhere Ordnungsebenen erfassen, wodurch Forscher und Kliniker ein genaueres Verständnis erhalten.
Organisation des HiTOP Modells
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]Im Einklang mit diesen drei grundlegenden Erkenntnissen besteht das HiTOP-Modell aus hierarchisch organisierten Dimensionen, die anhand der Kovariation psychopathologischer Merkmale identifiziert wurden. Anzeichen, Symptome sowie maladaptive Eigenschaften und Verhaltensweisen werden in homogene Komponenten gruppiert, also in Konstellationen eng verwandter Symptommanifestationen. Ein Beispiel hierfür ist die Leistungsangst, bei der Ängste vor dem Arbeiten, Lesen, Essen oder Trinken in Gegenwart anderer zusammen ein Cluster bilden. Maladaptive Traits sind spezifische pathologische Persönlichkeitsmerkmale, wie beispielsweise Unterwürfigkeit. Die führende Konzeptualisierung besagt, dass sich Symptome und maladaptive Traits lediglich im zeitlichen Rahmen unterscheiden. Eine Symptomkomponente spiegelt das aktuelle Funktionsniveau wider, etwa innerhalb des letzten Monats, während das entsprechende Trait das generelle Funktionsniveau über viele Jahre hinweg innerhalb derselben Dimension beschreibt.
Eng verwandte, homogene Komponenten werden zu dimensionalen Syndromen zusammengefasst, wie beispielsweise soziale Angst. Ein Syndrom ist eine Zusammensetzung verwandter Komponenten oder Traits, etwa ein soziales Angstsyndrom, das sowohl Leistungsangst als auch Interaktionsangst umfasst. Der Begriff Syndrom kann dabei verwendet werden, um eine Kategorie zu bezeichnen – etwa bei bestimmten medizinischen Erkrankungen wie der Lyme-Borreliose, die als klar abgrenzbares Problem betrachtet werden kann, das eine Person entweder vollständig hat oder nicht. In diesem Zusammenhang wird der Begriff jedoch zur Beschreibung einer Dimension genutzt. Wichtig ist, dass HiTOP-Syndrome nicht zwangsläufig den traditionellen, kategorialen Störungen entsprechen, wie sie in DSM und ICD definiert sind. Zwar wurden kategoriale Diagnosen in Studien häufig genutzt, um HiTOP-Dimensionen zu definieren, doch dienen sie dabei lediglich als Referenzpunkte und sind nicht Teil des Modells selbst. Anstatt DSM- und ICD-Störungen einfach neu anzuordnen, zielt HiTOP darauf ab, ein System auf Grundlage der in diesen Klassifikationen beschriebenen Anzeichen und Symptome – sowie zusätzlicher Symptome – zu entwickeln und diese basierend auf empirischen Erkenntnissen über ihr gemeinsames Auftreten neu zu strukturieren.
Cluster eng verwandter Syndrome bilden **Subfaktoren**, wie beispielsweise der **Angst-Subfaktor**, der durch starke Verbindungen zwischen sozialer Angst, Agoraphobie und spezifischen Phobien entsteht.
Spektren sind größere Konstellationen von Syndromen, wie beispielsweise das Internalisierungs-Spektrum, das Syndrome aus den Subfaktoren Angst, Belastung, Essstörungen und sexuellen Problemen umfasst. Bisher wurden sechs Spektren in das HiTOP-Modell aufgenommen:
Das Denkstörungs-Spektrum umfasst maladaptive Traits wie Eigenartigkeit, ungewöhnliche Überzeugungen, ungewöhnliche Erfahrungen und eine ausgeprägte Neigung zur Fantasie sowie Symptomdimensionen wie Desorganisation und Realitätsverzerrung. Zudem sind symptomatische Dimensionen der Dissoziation und Manie vorläufig diesem Spektrum zugeordnet. Das Denkstörungs-Spektrum beinhaltet einige Anzeichen und Symptome von Störungen wie Schizophrenie und verwandten Störungen, affektiven Störungen mit Psychose, schizotypischer Persönlichkeitsstörung und paranoider Persönlichkeitsstörung sowie vorläufig dissoziativen Störungen und bipolaren Störungen.
Das Distanziertheits-Spektrum umfasst maladaptive Traits wie emotionale Distanziertheit, Anhedonie, sozialen Rückzug und romantisches Desinteresse sowie Symptomdimensionen wie Ausdruckslosigkeit und Avolition. Es beinhaltet einige Anzeichen und Symptome von Störungen wie schizoidem Persönlichkeitsstil, selbstunsicherer (vermeidender) Persönlichkeitsstörung, schizotypischer Persönlichkeitsstörung sowie Schizophrenie und verwandten Störungen.
Das antagonistische externalisierende Spektrum umfasst maladaptive Traits wie Manipulativität, Täuschung, Gefühllosigkeit, Grandiosität, Aggression, Unhöflichkeit, Dominanz und Misstrauen sowie symptomatische Dimensionen antisozialen Verhaltens wie Diebstahl, Betrug, Zerstörung von Eigentum und Aggression. Es beinhaltet einige Anzeichen und Symptome von Störungen wie der dissozialen Persönlichkeitsstörung, der antisozialen Persönlichkeitsstörung, der intermittierenden explosiven Störung, der oppositionellen Trotzstörung, der histrionischen Persönlichkeitsstörung, der paranoiden Persönlichkeitsstörung, der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie vorläufig der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Das disinhibierte externalisierende Spektrum umfasst maladaptive Traits wie Impulsivität, Verantwortungslosigkeit, Ablenkbarkeit, Desorganisation, Risikobereitschaft, geringe Perfektionismusausprägung und geringes Arbeitsverhalten sowie symptomatische Dimensionen antisozialen Verhaltens, Substanzgebrauch und -missbrauch, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität. Dieses Spektrum beinhaltet einige Anzeichen und Symptome von Störungen wie Alkohol- und Substanzgebrauchsstörungen, ADHS, der dissozialen Persönlichkeitsstörung, der intermittierenden explosiven Störung, der oppositionellen Trotzstörung sowie vorläufig der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Das Internalisierungs-Spektrum umfasst maladaptive Traits wie emotionale Labilität, Ängstlichkeit, Unsicherheit bei Trennung, Unterwürfigkeit, Perseveration und Anhedonie sowie symptomatische Dimensionen von Belastung, Angst, Essstörungen und sexuellen Problemen. Zudem sind symptomatische Dimensionen der Manie vorläufig diesem Spektrum zugeordnet. Das Internaliserungs-Spektrum beinhaltet einige Anzeichen und Symptome von Störungen wie der Major Depression, Dysthymie, generalisierten Angststörung, posttraumatischen Belastungsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Agoraphobie, Zwangsstörung, Panikstörung, sozialer Angststörung, spezifischen Phobien, Anorexia nervosa, Binge-Eating-Störung, Bulimie sowie sexuellen Funktionsstörungen wie Erregungsstörungen, geringem Verlangen, Orgasmusstörungen und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Vorläufig sind zudem bipolare Störungen diesem Spektrum zugeordnet.
Das Somatoforme Spektrum umfasst symptomatische Dimensionen wie Konversionssymptome, Somatisierung, Unwohlsein, Kopfschmerzen, gastrointestinale Symptome und kognitive Beschwerden. Dieses Spektrum beinhaltet einige Anzeichen und Symptome von Störungen wie Krankheitsangst und somatischer Symptomstörung.
Superspektren sind sehr umfassende Dimensionen, die mehrere Spektren umfassen. Dazu gehört beispielsweise der allgemeine Psychopathologie-Faktor (p-Faktor), der die gemeinsame Anfälligkeit für alle psychischen Störungen widerspiegelt, sowie das externalisierende Superspektrum, das die Überschneidung zwischen dem disinhibierten und dem antagonistischen externalisierenden Spektrum abbildet. In jüngerer Zeit wurden zudem Superspektren für emotionale Dysfunktion und Psychose vorgeschlagen, die die Überschneidungen zwischen dem Internaliserungs- und Somatoformen Spektrum sowie zwischen dem Denkstörungs- und Distanziertheits-Spektrum erfassen.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]- ↑ The Hierarchical Taxonomy Of Psychopathology (HiTOP) | Renaissance School of Medicine at Stony Brook University. Abgerufen am 5. Februar 2025.
- ↑ Roman Kotov, Robert F. Krueger, David Watson, David C. Cicero, Christopher C. Conway, Colin G. DeYoung, Nicholas R. Eaton, Miriam K. Forbes, Michael N. Hallquist, Robert D. Latzman, Stephanie N. Mullins-Sweatt, Camilo J. Ruggero, Leonard J. Simms, Irwin D. Waldman, Monika A. Waszczuk, Aidan G. C. Wright: The Hierarchical Taxonomy of Psychopathology (HiTOP): A Quantitative Nosology Based on Consensus of Evidence. In: Annual Review of Clinical Psychology. Band 17, Volume 17, 2021, 7. Mai 2021, ISSN 1548-5943 , S. 83–108, doi:10.1146/annurev-clinpsy-081219-093304 (annualreviews.org [abgerufen am 5. Februar 2025]).
- ↑ R. K. Blashfield: The Classification of Psychopathology: Neo-Kraepelinian and Quantitative Approaches. Springer, New York, NY 1984, ISBN 978-0-306-41405-3. Fehler in Vorlage:Literatur – *** Parameterproblem: Dateiformat/Größe/Abruf nur bei externem Link