Amok
Amok (malaiisch: meng-âmok, in blinder Wut angreifen und töten) ist eine psychische Extremsituation, die durch Unzurechnungsfähigkeit und absolute Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist. Die Täter, die in einer solchen Ausnahmesituation Straftaten begehen können, nennt man Amokläufer oder auch Amokschützen, falls sie Schusswaffen gebrauchen, oder Amokfahrer, falls sie Fahrzeuge einsetzen.
Definitionen
Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht man unter Amok "eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-)zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie und/oder Erschöpfung. Häufig auch der Umschlag in selbst-zerstörerisches Verhalten, d.h. Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid ".[1]
Im DSM-IV wird Amok in den Rubriken Dissoziative Störungen und Störungen der Impulskontrolle aufgeführt, im Glossar kulturabhängiger Syndrome wird Amok als „eine dissoziative Episode, die durch eine Periode des Grübelns charakterisiert ist, auf die ein Ausbruch gewalttätigen, aggressiven oder menschengefährdenden Verhaltens folgt, das sich auf Personen und Objekte richtet" definiert. Das ICD-10 dagegen verwendet den Begriff nicht [2]
Sprachliche Abgrenzung
In der US-amerikanischen Kriminologie gibt es eine weitere sprachliche Unterscheidung, den so genannten spree killer (abgeleitet von killing spree – ins Deutsche übersetzt etwa Töten im Rausch). Während der als „spree killer" bezeichnete Täter sein Wirkungsgebiet sehr weit ausdehnen kann, beschränkt sich der klassische Amokläufer auf ein relativ kleines Gebiet. Im deutschen Sprachgebrauch gibt es diese Unterteilung nicht. Im Gegensatz zu einem Serienmörder sind die Taten von Amokläufern auf einen eher kurzen Zeitraum beschränkt und unterliegen äußerst selten sexualpathologischen Motiven.
In jüngster Zeit erfährt der Begriff Amoklauf dadurch eine Bedeutungsveränderung, dass er meistens für Taten benutzt wird, die keinesfalls spontan erfolgen (siehe oben), sondern geplant und häufig auch angekündigt werden. Hierzu gehört vor allem das School Shooting , bei dem es sich um einen lange geplanten Racheakt gegen ein bestimmtes Objekt handelt. Der Täter sieht dabei meist die Schule als Institution und will so die Gemeinschaft als Ganzes zerstören.[3]
Geschichte
Ursprünglich war Amok keine private Einzeltat, sondern das genaue Gegenteil. Es handelte sich im indonesischen Kulturkreis um eine kriegerische Aktion, bei der einige wenige Krieger eine Schlacht dadurch zu wenden versuchten, dass sie ohne jegliche Rücksicht auf Gefahr den Feind blindwütig attackierten (dieses Muster findet sich auch beim Berserker ).
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man, dass Amokläufer nur im Vollrausch ihre Tat begingen. Im renommierten Lexikon von Meyer aus dem Jahre 1888 heißt es dazu:
- Zitat aus Meyer: „Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, z. B. auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden."
Inzwischen hat das Amok-Phänomen längst die Industrienationen erreicht und die Soziologie führt den Amoklauf nicht mehr auf Rauschgiftgebrauch zurück.
Auslösende Faktoren
Erklärungsansätze, die Amoklauf auf eine einzige Ursache zurückführen wollen (Monokausalität) scheitern bei der Erklärung des Phänomens. Vielmehr wirken Voraussetzungen des sozialen Umfelds mit Voraussetzungen in der Person des Amokläufers selbst zusammen. Während früher Amoklauf als direkte Folge einer individuellen psychischen Störung angesehen wurde, gilt diese Erklärung heute als widerlegt. Als Auslöser eines Amoklaufs gelten eine fortgeschrittene psychosoziale Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher Integration durch Arbeitslosigkeit, Rückstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie Partnerschaftskonflikte.
Oft spielen vor einem Amoklauf mehrere Faktoren eine Rolle. Dabei sind sie nicht unmittelbar direkt vor dem Ereignis gelegen, sondern können bereits längere Zeit bestehen. Die Täter sind meist Männer mit aggressions- und konfliktgehemmter Persönlichkeit. Typisch ist, dass es sich bei Amokläufen nicht um Affekthandlungen (relativ spontanen, vom Täter nicht kontrollierbaren Handlungen aus starken Gefühlen heraus) handelt. Die Tat ist vielmehr eine Folge allmählicher Entwicklung gewalttätiger Gedanken und Fantasien.[4] Nur bei sieben Prozent der Täter ist eine psychiatrische Erkrankung festzustellen. Tatmotiv ist meist Rache (61 Prozent).[1]
Phasenartiger Ablauf
In seiner Dissertation „Über nicht kulturgebundene Amokläufe" hat Schünemann 1992 die These der sogenannten Amokphasen aufgestellt [5] , der typische Amoklauf spielt sich demnach nach folgenden Muster ab:
Vorstadium
Zunächst erfolgt das Vorstadium eines mehr oder weniger langen Brütens und Grübelns. Dem potenziellen Täter erscheint sein Umfeld zusehends undurchdringlich, seine Sichtweise der Welt verdunkelt sich mehr und mehr, er isoliert sich selbst, vor allem bezüglich seiner sozialen Kontakte und zieht sich weitgehend aus der Welt zurück, die für ihn immer bedrohlichere Züge annimmt. Die erlernten Anpassungsmechanismen zerfallen allmählich, soziale und psychische Desintegration vermischen sich und setzen einen Regressionsprozess in Gang.
Bei einigen Amokläufen in der jüngeren Geschichte (speziell die in Emsdetten und Blacksburg) zeichnet sich zudem ab, dass die späteren Täter ihre Vorbereitungshandlungen sowie ihren seelischen und geistigen Zustand selbst protokollieren, indem sie beispielsweise Homepages erstellen oder Videos drehen, in welchen sie ihre Sichtweise der Öffentlichkeit präsentieren.
Tat
Unmittelbar vor der Tat erfolgt ein Wutanfall, der sich in einer Reihe von Tötungshandlungen ohne ersichtliches Motiv entlädt. Dabei wird der Blick des Amokläufers starr, er reagiert kaum auf andere Reize, ist nicht mehr ansprechbar. Während der Tat ist die Impulskontrolle ausgeschaltet, der Täter befindet sich in einem "Zustand der inneren Leere".
Abschluss
Der Täter befindet sich danach oft in einem Zustand der Amnesie und Erschöpfung oder zeigt selbstzerstörerisches Verhalten bis hin zum Selbstmord. Statistisch gesehen töten sich 27 Prozent der Täter selbst, in 16 Prozent der Fälle werden sie getötet, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine Absicht zum "suicide by cop" (selbstmörderische Absicht, sich von der Polizei erschießen zu lassen) bestehen kann [1] .
Prävention
Experten gehen davon aus, dass es zukünftig vermehrt Fälle von Amokläufen und School Shootings geben könne. Auch wenn erste Projekte (z.B. Leaking Project, Amokprävention an Schulen) versuchen gewaltbereite Personen frühzeitig zu identifizieren, ist es nicht möglich einen Amokläufer vor seiner Tat zu erkennen.
Es sei daher wichtig im Umfeld auf die auslösenden Faktoren zu achten (Depressionen, soziale Isolation, Unfähigkeit mit Wut und Aggression umzugehen). Generell müssten sich jedoch gesellschaftliche Faktoren ändern und eine veränderte Anerkennung des Einzelnen vorleben, die Menschen nicht zu Losern mache.[6]
Auswahl bekannter Amokläufe
- 4. September 1913, Vaihingen an der Enz, 17 Tote (siehe Ernst August Wagner)
- 18. Mai 1927, Bath, Michigan, 45 Tote (siehe Schulmassaker von Bath)
- 6. September 1949, Camden, New Jersey, 13 Tote (siehe Howard Unruh)
- 11. Juni 1964, Köln, 10 Tote (siehe Attentat von Volkhoven)
- 1. August 1966, Austin/Texas, 17 Tote (siehe Charles Whitman)
- 29. Januar 1979, San Diego, Kalifornien, 2 Tote, 9 Verletzte (siehe Brenda Ann Spencer)
- 27. April 1982, Gyeongsangnam-do, 58 Tote (siehe Woo Bum-kon)
- 3. Juni 1983, Eppstein/Hessen, 5 Tote, 14 Verletzte (siehe Amoklauf an der Freiherr-vom-Stein-Gesamtschule)
- 13. November 1990, Aramoana/Neuseeland, 14 Tote, 3 Verletzte (siehe Amoklauf von Aramoana)
- 10. März 1995, Urfahr/Österreich, 6 Tote (siehe Amoklauf von Urfahr)
- 13. März 1996, Dunblane/Schottland, 17 Tote (siehe Thomas Hamilton)
- 28. April 1996, Port Arthur/Tasmanien, 35 Tote (siehe Martin Bryant)
- 20. November 1997, Mauterndorf/Österreich, 7 Tote (siehe Amoklauf von Mauterndorf)
- 20. April 1999, Littleton/Colorado, 15 Tote (siehe Schulmassaker von Littleton)
- 27. September 2001, Zug/Schweiz, 15 Tote (siehe Zuger Attentat)
- 27. März 2002, Nanterre/Frankreich, 8 Tote, 19 Verletzte (siehe Amoklauf von Nanterre)
- 26. April 2002, Erfurt, 17 Tote (siehe Amoklauf von Erfurt)
- 20. November 2006, Emsdetten, 1 Toter, 37 Verletzte (siehe Amoklauf von Emsdetten)
- 16. April 2007, Blacksburg/Virginia, 32 Tote, 29 Verletzte (siehe Amoklauf an der Virginia Tech)
- 27. Juli 2007, Jabukovac/Serbien, 9 Tote, 2 Verletzte (siehe Amoklauf von Jabukovac)
- 7. November 2007, Jokela/Finnland, 9 Tote, 12 Verletzte (siehe Schulmassaker von Jokela)
- 14. Februar 2008, Northern Illinois University, 6 Tote, 16 Verletzte[7]
- 23. September 2008, Kauhajoki/Finnland, 11 Tote (siehe Amoklauf von Kauhajoki)
- 10. März 2009, Alabama/USA, 10 Tote
- 11. März 2009, Winnenden/Deutschland, 16 Tote (siehe Amoklauf von Winnenden)
Siehe auch
- Heckenschütze
- Nichtanzeige geplanter Straftaten
- Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten
Literatur
- Stefan Zweig: Amok (1922); Neuausgabe: Der Amokläufer. Erzählungen. Fischertaschenbuch, Frankfurt am Main 1989
- Frank Robertz, Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. Springer, Heidelberg 2007
- Götz Eisenberg: Amok − Kinder der Kälte: über die Wurzeln von Wut und Haß . Rowohlt-Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2000
- Richard Albrecht: Nur ein „Amokläufer"? − Sozialpsychologische Zeitdiagnose nach „Erfurt"; in: Recht und Politik, 38 (2002) 3, 143−152.
- Manfred Wolfersdorf und Hans Wedler (Hrsg.): Terroristen-Suizide und Amok. Regensburg 2002
- Adolf Gallwitz: Amok − Grandios untergehen, ohne selbst Hand anzulegen. In: Polizei heute, 6 (2001), 170−175
- Morton Rhue: Ich knall euch ab Ravensburger Buchverlag
- Elsa Pollmann: "Tatort Schule. Wenn Jugendliche Amoklaufen". Tectum Verlag, Marburg 2008
Weblinks
- Amok − Begriff und Geschichte auf der Psychiater-Website „Psychosoziale Gesundheit Net"
- Amok und Pseudo-Amok - Th. Knecht, Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 150, 142-148
- „Amok – ein neuer Blick auf ein altes Phänomen" - Jens Hoffmann, Auszug aus dem Buch „Polizei & Psychologie" (ISBN 3-935979-12-6)
- Süchtig nach Gewalt HR2 – MP3-Beitrag
- Amokläufe an Schulen - Die Konstruktion des Tötens Interview von n-tv mit dem Kriminologen und Soziologen Frank J. Robertz
- Amoklauf - Sehnsucht nach Allmacht Essay von Wolfgang Bergmann, Frankfurter Rundschau, 24. November 2007
Quellen
- ↑ a b c Volker Faust: Psychosoziale Gesundheit
- ↑ Knecht, T. 1999: Amok und Pseudo-Amok, Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 150, 142-148
- ↑ "Amokläufer im Visier" Dokumentation von Marita Neher auf dem Fernsehsender ARTE im März 2008. Aussagen der Bielefelder Kriminologin Prof. Dr. Britta Bannenberg, dem Münsteraner Kriminalrat Holger Engels (zuständig für das School Shooting in Emsdetten 2006) und die für das School Shooting in Columbine zuständige Psychologin Katherine Newman.
- ↑ afp: Stichwort Amoklauf, Tagesschau.de, 16. April 2007
- ↑ K.-F. Schünemann. Über nicht kulturgebundene Amokläufe. Dissertation. 1992. S.105
- ↑ "Amokläufer im Visier" Dokumentation von Marita Neher auf dem Fernsehsender ARTE im März 2008. Aussagen der Bielefelder Kriminologin Prof. Dr. Britta Bannenberg und des Berliner Universitätsprofessors Prof. Dr. Herbert Scheithauer
- ↑ Pressemeldung ZDF