Menschenbild
Ein in der philosophischen Anthropologie gebräuchlicher Begriff für die Vorstellung, das Bild, das jemand vom Wesen des Menschen hat. Dieses Menschenbild ist immer in eine bestimmte Überzeugung oder Lehre eingebunden, die jemand vertritt. So gibt es dann bspw. ein christliches oder ein buddhistisches, ein humanistisches oder ein darwinistisches Menschenbild u.a.m.
Dem Einzelnen erscheint das eigene Menschenbild häufig als so selbstverständlich, dass er kaum darüber nachdenkt, dass man sich den Menschen auch anders vorstellen kann. Trifft man auf ein anderes Menschenbild, so wird dieses häufig als falsch, das eigene als richtig angesehen. Hier geht es nicht um die Klärung von Streitfragen, also nicht warum, was richtig und was falsch ist, sondern, welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten über sich hatten und welche Implikationen daraus folgen.
Abgrenzung: Wer ist Mensch und wer nicht?
Die Frage, was ein Mensch ist und was nicht, ist grundlegender und vor allem strittiger als gemeinhin angenommen.
Das Bild vom Menschen im Laufe der Geschichte
Vorzeit
Über Menschenbild und Selbstverständnis des Menschen der Vorzeit ist wenig bekannt, allerdings existieren künstlerische, wohl religiöse Zeugnisse wie Abbildungen von Menschen und Göttern. Nachgewiesene Begräbnis-Riten weisen auf Vorstellungen vom Jenseits und Sorge um die Verstorbenen hin. Religiöse Vorstellungen waren wahrscheinlich animistisch inspiriert.
Schöpfung
In fast allen Gesellschaften existieren Mythen der Schöpfung, die Hinweise auf Weltbild, aber auch auf das Selbstverständnis der Menschen liefern.
Mensch und Gottheit
In der griechischen und römischen Antike wie auch in Zweistromland existiert eine Vielzahl von Göttern, die den Menschen überlegen sind, aber ihnen auch ähneln. Der Mensch wird im Gegensatz zu den Göttern als sterblich angesehen, weshalb „die Sterblichen" als Umschreibung für Menschen benutzt wurde. Menschen und Götter pflegen untereinander und Miteinander eine Vielzahl von Lieb- oder Feindschaften, und sind gleichermaßen in Leidenschaften verstrickt (siehe z.B. die Sage von Odysseus). Ansonsten ist das Menschenbild der Antike auch von einer Hinnahme von Sklaverei, Ungerechtigkeit und Ungleichheit geprägt. In Athen, und später auch in Rom finden sich zwar Ansätze der Demokratie, sie ist jedoch immer auf die sog. Freien (vgl. Oberschicht) begrenzt. Die Philosophie erblüht dennoch in der Antike, es werden weitreichende Betrachtungen über den Menschen und die Gesellschaft angestellt, auf die man sich teilweise noch heute bezieht.
Im Monotheismus ist die Trennung zwischen Mensch und Gott weitaus prägnanter. Der alleinige Gott duldet keine weiteren Götter neben sich und verlangt nach Erfüllung seines Willens (z.B. Opfer, siehe Altes Testament).
Der Unterschied zwischen Mensch und Gott (Monotheismus)/Göttern wird in religiös geprägten Gesellschaft darin gesehen, dass ein Gott das Überwesen ist, das - selber anderen, keinen oder undurchschaubaren Regeln unterworfen - den Menschen überhaupt erst geschaffen hat, das ihn (wie z.B. im Christentum oder Islam) einst richten wird, und das in der Zwischenzeit jede Macht hat, das Leben des Menschen auch existenziell zu beeinflussen. Der Mensch erscheint - besonders im Monotheismus - als abhängig von Gott. In christlichen Strömungen wie Katholizismus und Protestantismus bekommt hierbei der Begriff der Sünde, etwa im Verhältnis zum freien Willen große Bedeutung. Im Islam ist der Mensch nicht nur von Gott geschaffen und von ihm abhängig, sondern der Islam (arabisch: Unterwerfung unter den Willen Gottes) fordert auch eine bedingungslose Unterwerfung, die soweit geht, dass in den meisten Spielarten des Islam der freie Wille des Menschen verneint wird.
In verschiedenen Kulturen konnten Menschen zu Göttern werden und wurden auch als solche verehrt. Weltliche Herrscher wie manche der Pharaonen, oder solche in den mittelamerikanischen Kulturen der Maya oder Azteken beanspruchten, als Menschen gleichzeitig Götter zu sein, Herrscher über Himmel und Erde. Die Konquistadoren aus Europa wurden von den Indianern zunächst als Götter wahrgenommen, die alte Prophezeiungen erfüllten.
Bei den Voodoo-Kulten und vergleichbaren Naturreligionen etwa in Afrika oder der Karibik geraten (auch heute) gewöhnliche Menschen in Trance, und Gottheiten ergreifen von ihnen zeitweise Besitz, sprechen durch sie oder drücken sich in Bewegungen und Handlungen aus.
Im asiatischen Kulturkreis überwiegt im Unterschied zu christlich geprägten Gesellschaften eine buddhistisch beeinflusste Sicht des Menschen, die dadurch gekennzeichnet ist, daß Gott und Mensch in eins fallen. Schöpfer und Geschöpf existieren nicht unabhängig voneinander. Gott drückt sich als alles durchdringende Lebenskraft in der Schöpfung aus. Aus diesem Grund hat der Begriff „Gott" im Buddhismus keine Bedeutung, da er im wesentlichen eine Abgrenzung zum Menschen ausdrückt. Für das Menschenbild hat diese Sicht entscheidende Bedeutung, da sie den Menschen auf sich selbst und die ihn umgebende Schöpfung zurückwirft. Er ist keinem außerhalb von sich befindlichen Überwesen Rechenschaft schuldig (wie im Judentum, Christentum und Islam), sondern hat sein Tun und Lassen allein vor sich selbst zu verantworten. Jede Ausübung einer Wirkung auf die Umwelt kommt einer Auswirkung auf das eigene Selbst gleich, da das Schöpferische im Menschen (Gott) und der Mensch als Teil der Welt nicht voneinander verschieden sind (vgl. auch Pantheismus)...
Mittelalter
Das Mittelalter ist geprägt von Aberglauben, Hinnahme des eigenen Schicksals und Furcht vor der Hölle, aber auch von der Wiederentdeckung des Wissens der Antike in den Bibliotheken der Klöster. Handel mit dem Orient bietet die Möglichkeit der Verbreitung von Wissen und Erfindungen. Die Kreuzzüge sollen die Überlegenheit des christlichen Glaubens demonstrieren, weltliche und kirchliche Macht und Rechtsprechung gehen Hand in Hand. Die Herrschaft des Adels wird als gottgewollt dargestellt, Ungleichheit zwischen den Menschen meist hingenommen (siehe aber auch: Habeas Corpus).
Das Menschenbild der Aufklärung
Der Humanismus stellt einen Bruch mit den vormaligen Vorstellungen dar, im Zentrum steht nun der Mensch, das Individuum. Die Philosophie der Aufklärung erreicht eine Synthese von antiken und neueren Vorstellungen vom Menschen. Das Licht der Aufklärung soll dem vernunftbegabten Menschen ermöglichen, alten Aberglauben abzulegen, sich selbst zu erkennen, seine eigenen Belange und die der Gesellschaft vernünftig zu regeln. Das naturwissenschaftlich-rationale Denken hält Einzug. Das Bürgertum überwindet in Folge der französischen Revolution die Herrschaft von Kirche und Adel, und entwickelt ein neues Selbstverständnis, das sich in Kultur und Politik niederschlägt.
Moderne
Die Industrialisierung mündet in die Moderne. Die Moderne ist (in ihrer Selbstwahrnehmung) geprägt von technischen Erfindungen, kulturellen Revolutionen und Fortschritt, Säkularisierung, politisch von Marxismus, Emanzipation von Frauen und der Arbeiterbewegung, Liberalismus, Faschismus und den Katastrophen der beiden Weltkriege.
Max Weber analysiert in Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus die ökonomischen Prozesse der Industriegesellschaft, die zeitgenössische Arbeitsethik, ihre Verankerung im Protestantismus. In ihrem berühmten Werk Dialektik der Aufklärung kritisieren die Philosophen Theodor W. Adorno und Horkheimer die Unmenschlichkeiten des Nazi-Regimes und anderer Systeme als Folge des überbetont rationalen Denkens der Aufklärung: Die Konzentrationslager funktionierten technisch perfekt organisiert nach rationalen Gesichtspunkten, die den Wert des Menschen auf seinen Materialwert bezifferten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen die modernen kapitalistischen westlichen Gesellschaften auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten. Das Individuum tritt als Bürger und Konsument, als Wähler und als Arbeitnehmer auf. Wohlstand und weitere Rationalisierung halten Einzug. Im konkurrierenden Ostblock soll ein dogmatischer Sozialismus die Lehren von Karl Marx verwirklichen. Ein Arbeitskult, und die Verfolgung von sog. Abweichlern von der Parteilinie, autoritäre Regimes und Mangel an Freiheit sind jedoch die Folge.
Das Menschenbild des Grundgesetzes
Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Dies heißt aber: der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt. (BVerfGE 4, 7, 15 f.)
Der Existenzialismus als populäre Denkenschule der Avantgarde der 50er entwirft ein Bild vom modernen Menschen, der in eine sinnlose Welt geworfen ist, Sinn muss von ihm selbst gestiftet werden.
Mit der Studentenbewegung von 1968, mit Umbrüchen wie der machtvollen Popkultur hält wiederum ein neues Menschenbild Einzug. Die 68er protestieren gegen eine vermeintlich erstarrende Gesellschaft in West wie Ost, eine Technokratie, die dem Individuum keinen Raum einräumt, sondern angepasstes Verhalten verlangt. Irrationale Seiten des Menschen wie Phantasie werden von den 68ern dagegengehalten, Esoterik, Utopien, aber auch Kunst und Kultur sind dabei Ausdruck dieser Haltung.
In der Philosophie entwerfen Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida Grundzüge einer neuen Philosophie des Menschen. Sie wenden sich gegen die scheinbar selbstverständlichen Eindeutigkeiten, binären Entscheidungen, Festschreibungen, die das Denken über Mensch und Welt bisher prägten.
Die Postmoderne ist gekennzeichnet vom Nebeneinander einer Vielzahl von Ansichten über den Menschen, von divergierenden neuen und alten Lebensstilen. Gemein ist ihnen jedoch zumeist der Wille zu Pluralismus und Toleranz. Die Ökologie-Bewegung entwirft in den 70ern und 80ern ein ganzheitliches Menschenbild, bei dem besonders das Eingebundensein des Menschen in die Natur betont wird. Jugendbewegungen wie Punk oder New Wave propagieren einen melancholischen bis pessimistisch-nihilistischen Blick auf den Menschen.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 bekommt das Menschenbild des Homo oeconomicus weltweite Gültigkeit. Von der Globalisierung und ihren scheinbar unkontrollierbaren Folgen verunsichert sucht man teils Halt in einem konservativ geprägten Menschenbild (Sekundärtugenden, Eliten, auch die Religion wird wieder stärker betont) und grenzt sich somit von der 68er-Bewegung ab. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind allerdings auch gegenläufige Tendenzen feststellbar, eine Renaissance der Linken und des zugehörigen Menschenbilds wird von manchen Beobachtern ebenso ausgemacht.
Was macht den Menschen aus?
Mensch und Tier
Im europäischen naturwissenschaftlichen Weltbild scheint die Abgrenzung zum Tier eindeutig zu sein. In anderen Kulturen jedoch erfolgt die Abgrenzung anders. In Südostasien beispielsweise werden die Menschenaffen zu den Menschen gerechnet: Orang Utan ist der Waldmensch, Orang Asli ein Eingeborener und Orang Jermani ein Deutscher. Alle sind Menschen. Umgekehrt werden gelegentlich völlig andere Menschen nicht zu den Menschen gerechnet. In Brasilien kommt es vor, dass die dortigen Ureinwohner als „Waldtiere" bezeichnet werden.
In der klassischen Philosophie und im christlichen Menschenbild kommt dem Menschen aufgrund seiner geistigen Seele (Geist) eine eindeutig herausgehobene Stellung gegenüber den Tieren zu, denn der Mensch gilt als Ebenbild Gottes (Gen 1, 26-27) und ihm steht es zu, über die Tiere wie die gesamte Schöpfung zu herrschen (Gen 1, 28). Das moderne naturwissenschaftliche Menschenbild verneint dagegen einen systematischen Unterschied zwischen Mensch und Tier.
Häufig schmücken sich jedoch in vielen Kulturen Menschen mit Bezeichnungen von Tieren. Adler, Löwe, Fuchs, Wolf usw. sind beliebte Selbstbezeichnungen, wie auch anhand von Vornamen und Titeln erkennbar ist. Analog gibt es Bezeichnungen, die abwertend gesehen werden, wie z. B. Schwein, Sau, Ratte, Hund, Esel. Manche Tiere wie z. B. Kamel werden in einigen Kulturkreisen anerkennend, in anderen abwertend gebraucht. Wo der Unterschied zwischen Mensch und Tier besonders betont wird, werden Tiervergleiche überhaupt nicht gerne gesehen.
Teilweise umstritten sind die Bezeichnungen human (wörtlich: menschlich) und bestialisch (wörtlich: tierisch). Hier wird unterstellt, dass der Mensch mild wäre, während das Tier roh ist. Häufig werden aber Handlungsweisen des Menschen als bestialisch bezeichnet, die beim Tier kaum oder gar nicht vorkommen. Umgekehrt wird mit human häufig eine Verhaltensweise bezeichnet, die bei Tieren in analoger Form vorkommen.
Kritische Literatur zu dieser Problematik:
- Jobst Paul (2004): Das >Tier<-Konstrukt - und die Geburt des Rassismus. Zur kulturellen Gegenwart eines vernichtenden Arguments. ISBN 3-89771-731-X
Mensch geschlechtsspezifisch
Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde in der Theologie, aber auch in den Wissenschaften und der Politik darüber debattiert, ob Frauen als Menschen zu gelten haben oder nicht und wenn ja, ob sie „vollwertige" Menschen seien oder nur eine minderwertige Sonderform.
Entmenschlichung
Menschen mit Aussehen, Verhalten oder Lebensweisen, die nicht der Norm entsprachen, etwa geistiger Behinderung, wurde gelegentlich das Attribut „Mensch" abgesprochen, man spricht hierbei von Entmenschlichung. Dies hat z.B. in der „NS-Rassenhygiene" während der Zeit des Nationalsozialismus zum Begriff des „lebensunwerten Lebens" geführt: Im Nationalsozialismus wurden psychisch Kranke und geistig und physisch behinderte Menschen mit dieser Begründung ermordet (Euthanasie). Der Maßstab von Wert , der dabei zum Ausdruck kam, bezog sich auf einen vermeintlich mangelnden Nutzen (also Leistung für die Gemeinschaft) der Opfer, aber auch auf auszurottendes Erbgut. Auch kulturell fand dieses Denken in anderer Form als Verfolgung etwa der Swing-Jugend oder von Künstlern (Entartete Kunst) Ausdruck: Abweichung vom Normalen wurde nicht geduldet. Ideal war das Gesunde, Saubere, Ordentliche, Heile (wie es sich auch in der Kunst des Nationalsozialismus immer wieder findet, siehe auch Kitsch).
Bei Schwerverbrechern wird eine ähnliche Ausgrenzung vorgenommen. In einer Vorform spricht man vom „Unmenschen" oder von Bestialität. Man „werde zum Tier", ist ein geflügeltes Wort, wenn man sich selbst oder anderen in bestimmten Phasen Eigenschaften abspricht, die man als „typisch menschlich" betrachtet.
In Kriegen wurden häufig Gegner dämonisiert: Sie sollen dadurch als kollektive Bedrohung, als Masse, als das Böse wahrgenommen werden, nicht als menschliche Individuen, um die Anwendung von militärischer Gewalt zu erleichtern.
Wann beginnt der Mensch?
Seine Rechtsfähigkeit beginnt im Allgemeinen mit der Vollendung der Geburt. Eine Ausnahme ist im Erbrecht zu finden, da bereits ein Ungeborens als Erbe fungieren kann und somit Rechte übertragen bekommen kann.
Dies entspricht jedoch nicht der allgemeinen Vorstellung vom Beginn des Menschseins, sondern ist nur für rechtliche Zwecke recht praktisch, weil im Allgemeinen gut datierbar. Nach römisch-katholischer sowie buddhistischer Lehre beginnt der Mensch mit der Zeugung, da bereits dort das Genom vollständig ist sowie die Geist-Seele wirkt und ihm die personale Würde samt aller Menschenrechte verleiht. Andere setzen die Ausbildung mehrerer Zellen an. Wieder andere erkennen keinen Zeitpunkt der Menschwerdung, sondern eine Entwicklung, in der der Fötus mehr und mehr Mensch wird. Praktische Bedeutung hat diese Frage vor allem bei der Abtreibung. Von den Verfechtern eines frühen Menschen wird daher von Mord gesprochen, während andere keine moralischen Probleme haben, den Fötus abzutöten, weil sie ihn noch nicht als Menschen sehen.
Beachtet werden sollte, dass auch das Neugeborene nicht zu allen Zeiten bereits als vollwertiger Mensch galt. Häufig wurde das Kind erst mit der Entwicklung der Sprache als Mensch gezählt. Sehr praktisch wurde diese Diskussion in den Betrachtung über den sprachlosen Kaspar Hauser. Das Aussetzen eines Kindes war früher weit verbreitet. Findelkinder wurden dem Schicksal überlassen.
Wann endet der Mensch?
Die Frage nach dem Ende des Menschen gewinnt mit zunehmender Medizintechnik an Bedeutung. Herzstillstand muss aber z. B. noch keinen endgültigen Tod bedeuten. Der Eintritt des Hirntods ist eindeutiger, aber schwerer feststellbar. Praktisch wird die Frage, wenn - etwa nach einem Unfall - ein Mensch mit Hilfe von Apparaten im Koma gehalten wird, aber ein Wiedererreichen der vollen Vitalfunktionen ausgeschlossen erscheint. Sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber führen dazu, dass alten Menschen eine Patientenverfügung empfohlen wird, in der sie ihre eigenen Vorstellungen darüber niederschreiben und für die behandelnden Ärzte verbindlich machen können.
Erbe und Umwelt, Determinismus und freier Wille
Welche Eigenschaften eines Menschen vererbt sind und welche durch die Umwelt erworben sind, ist seit jeher strittig. Neben den extremen Ansichten, die von einer vollständigen Vorbestimmung des Menschen durch sein Erbgut bzw. von einer völligen Erziehbarkeit des Menschen („tabula rasa") ausgehen, gibt es viele Abstufungen von Meinungen, die den Menschen mehr oder weniger durch das Erbgut vorbestimmt sehen.
Beide Seiten können hinreichend Beispiele für die Vererbbarkeit bzw. die Umweltbeeinflussung von menschlichen Eigenschaften vorbringen, so dass die extremen Ansichten heute selten geworden sind. Neben den beiden Extremen gibt es auch noch die Prägung, einer irreversiblen Umweltbeeinflussung.
Philosophisch und religiös haben diese Fragen eine sehr große Bedeutung bei der Diskussion über den freien Willen. Wird ein freier Wille postuliert, dann gibt es Bereiche, die weder durch Erbe noch durch Umwelt determiniert sind. Im Gegensatz dazu steht die Auffassung, dass der Mensch völlig determiniert sei. Auch hier gibt es wieder die vermittelnden Auffassungen, dass der Mensch teilweise frei sei und teilweise vorbestimmt.
Die Fragen haben sehr praktische Bedeutung.
In der Erziehung geht es um die Frage, was Erziehung überhaupt bewirken kann. Geht man von einer sehr starken Vorbestimmung von Fähigkeiten durch das Erbe aus („Begabungen"), dann muss man diese Begabung ermitteln, um sie zu fördern. Die Erziehung zu Fähigkeiten, die nicht angeboren sind, ist danach ausgeschlossen bzw. nur mit sehr großem Aufwand durchzuführen. Früher ging man bei der Frage der Rechtshändigkeit von einer Umweltbeeinflussung aus und versuchte, die Kinder alle zu Rechtshändern zu erziehen. Heute unterstellt man, dass die Händigkeit angeboren ist, und lässt die Kinder mit der Hand schreiben, die für sie die „richtige" erscheint.
Geht man von starken Umwelteinflüssen aus, so neigt staatliche Erziehung dazu, die Unterschiede zwischen den Einflüssen verschiedener Elternhäuser ausgleichen zu wollen. Der Mensch sei „gleich geboren" und die Ungleichheiten sind nach dieser Auffassung Ungerechtigkeiten, die man in der Schule möglichst ausgleichen muss.
Auch in der Kriminalitätspolitik hat das Menschenbild einen erheblichen Einfluss. Menschen mit der Vorstellung, dass Verbrecher zu Verbrechern „gemacht" werden, neigen zu starker Gewichtung von Resozialisierungsmaßnahmen und lehnen das „Wegsperren" der Täter ab. Umgekehrt gehen Menschen mit der Vorstellung, dass man „zum Verbrecher geboren" wird, dazu, Verbrecher wegzusperren. Nach ihrer Vorstellung sind Resozialisierungsbemühungen vertane Liebesmüh’. Weit verbreitet ist auch die Vorstellung, dass beides - erbliche Veranlagung und Umwelteinflüsse zusammenkommen, wenn ein Mensch zum Verbrecher wird. Hier mischen sich dann die Absichten zum Wegsperren mit denen zur Resozialisierung.
Auch in der Wirtschaft und in der Politik kommen die Antworten auf diese Fragen zum Tragen: Sie propagieren teilweise das Menschenbild des Homo oeconomicus. Werbung beruht auf der Vorstellung der Beeinflussbarkeit der Menschen. Das wiederum setzt voraus, dass man vererbte Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens der Menschen unterstellt, die durch Werbung angesprochen werden. Die Grenzen dieser Vorstellung werden bei internationalen Konzernen sichtbar, die gelegentlich ihre Werbekampagnen an die jeweilige Kultur anpassen.
Gleichheit oder Ungleichheit?
Die alte Streitfrage, ob alle Menschen gleich seien oder verschieden, wird ebenfalls durch das Menschenbild bestimmt. Ganz offensichtlich haben alle Menschen Gemeinsamkeiten, die schon rein äußerlich auffallen. Auch in ihren Grundbedürfnissen gleichen die Menschen sich, und in ihrer emotionalen Grundstruktur, die durch die Funktion des Gehirns festgelegt ist.
Ebenso offensichtlich gibt es aber auch Unterschiede, so dass wir einzelne Menschen identifizieren können, was ja nicht möglich wäre, wenn alle gleich wären. In der Frage, wie gleich die Menschen sind, scheiden sich die Geister. Und noch mehr unterscheiden sich die Vorstellungen, ob die Menschen gleich oder verschieden sein sollen. Darüber, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben sollen, gibt es seit der Aufklärung einen Konsens in freien Gesellschaftssystemen.
Literatur
- Walfried Linden, Alfred Fleissner: Geist, Seele und Gehirn. Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern, LIT-Verlag Münster 2004, ISBN 3825879739
Siehe auch
- Philosophische Anthropologie, Theologische Anthropologie
- Weltanschauung
- Zivilisation, Kultur, Kunstbegriff