Einstiegsdrogen-Hypothese
Die Bezeichnung Einstiegsdrogen-Hypothese oder Gateway-Hypothese[1] [2] [3] (eng. gateway hypothesis,[4] gateway drug theory,[5] gateway effect,[6] gateway drug effect,[5] stepping-stone theory, escalation hypothesis oder progression hypothesis) sind Ausdruck epidemiologischer Ergebnisse, nach der der Konsum einer Droge mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für den Konsum weiterer anderer Drogen gekoppelt ist. Nach einer Teilkomponente der Hypothese ist die zeitliche Abfolge des Erstkonsums verschiedener Drogen zum Teil ursächlich bedingt aufgrund von Prägung im Gehirn durch den Konsum der früheren Droge. Nach einer anderen Teilkomponente der Hypothese ist die zeitliche Abfolge auch erklärbar durch persönliche und soziale Faktoren, wie etwa genetische Veranlagung und Verkehrs- und Konsumformen der Drogen. Die wissenschaftliche Prüfung der Hypothese hat gesundheitspolitische Bedeutung im Bereich Aufklärung und Gesetzgebung.
Geschichte
Denise Kandel, Professorin für soziomedizinische Wissenschaften in der Psychiatrie an der Columbia Universität und Leiterin der Abteilung Epidemiologie von Substanzmissbrauch am New York State Psychiatric Institute, und Kollegen veröffentlichten seit 1975 die Ergebnisse mehrerer Längsschnittstudien zur zeitlichen Abfolge des Erstgebrauchs von Drogen.[7] [8] [9] Diese und ähnliche Ergebnisse führten zu intensiven wissenschaftlichen und politischen Diskussionen über die möglichen Ursachen der beobachteten Trends. Hierbei haben sich die Schlagworte stepping-stone theory (wörtlich: Trittstein-Theorie) und gateway theory (wörtlich: Einfahrts-Theorie) sowie im Deutschen der umgangssprachliche Begriff Einstiegsdroge weit verbreitet.[10]
Epidemiologische Ergebnisse
Das Konzept der Einstiegsdroge gründet auf Beobachtungen, dass die Reihenfolge des Erstkonsums verschiedener Drogen nicht zufällig ist, sondern Trends aufweist. Durch etablierte Techniken von Längsschnittstudien lassen sich diese Trends präzise beschreiben, und zwar durch die Angabe von Wahrscheinlichkeiten. Zu beachten ist dabei, dass eine zeitliche Abfolge mit einer kausalen Abfolge gekoppelt sein kann – aber nicht muss.
Zusammenhänge
Da man bei einer zeitlichen Abfolge nur auf die Möglichkeit – nicht aber auf die Tatsache – einer zugrundeliegenden kausalen (ursächlichen) Abfolge schließen kann, haben sich verschiedene Theorien zu möglichen Zusammenhängen entwickelt. In der wissenschaftlichen Diskussion (Stand April 2016) stehen zwei Theorien im Vordergrund, die – sofern sie kombiniert werden – nahezu alle denkbaren kausalen Zusammenhänge abdecken. Es handelt sich um die Theorie der biologischen Prägung (im Gehirn) durch eine früher konsumierte Droge und um die Theorie einer drogenübergreifenden Motivationslage des Konsumenten.[11] [12]
Hinweise auf biologische Prägung im Gehirn
In Tierversuchen kann – im Vergleich zu klinischen Studien – relativ einfach festgestellt werden, ob der Konsum einer Droge die spätere Attraktivität einer anderen Droge erhöht. Zum Beispiel erhöhte Cannabiskonsum bei Tieren die Selbstverabreichung von Heroin [13] [14] , Morphin [15] [16] und auch Nikotin [17] [18] in Folgeexperimenten. Es wurden auch direkte Anzeichen dafür gefunden, dass der Mechanismus der Prägung in einer andauernden Veränderung des Belohnungssystems des Gehirns besteht.[13] [14]
Bei Mäusen erhöhte Nikotin die Wahrscheinlichkeit von späterem Konsum von Kokain, und die Experimente ließen konkrete Schlüsse zu auf die zugrunde liegenden molekularbiologischen Veränderung im Gehirn.[19] [20] Die biologische Prägung bei Mäusen entsprach somit den epidemiologischen Beobachtungen, dass Nikotin-Konsum beim Menschen gekoppelt ist an eine später erhöhte Wahrscheinlichkeit von Cannabis- und Kokain-Gebrauch.[21] [22]
Persönliche und soziale Faktoren
Nach dem Konzept einer drogenübergreifenden Motivationslage des Konsumenten (common liability) gebe es mehrere persönliche und umweltbedingte Faktoren, die ein mögliches Interesse an Drogen in gleicher Weise für mehrere verschiedene Drogen beeinflussen könnten. Die Reihenfolge des Konsums verschiedener Drogen sei demnach von den gegebenen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen abhängig.[23] [24] Das Konzept wurde inzwischen gestützt durch eine umfassende genetische Analyse, die einen genetischen Zusammenhang aufzeigte zwischen dem Vorkommen von Cannabiskonsum und dem Vorkommen von Zigarettenrauchen im Verlauf des Lebens einer Person.[25] [26]
Die Ergebnisse einer Zwillingsstudie lieferten jedoch starke Hinweise darauf, dass die Einflüsse von genetischen und Umwelt-Faktoren eher schwach – und möglicherweise nur für manche Drogen-Abfolgen – wirksam sind. Bei 219 gleichgeschlechtlichen niederländischen Zwillingspaaren hatte jeweils einer vor dem Alter von 18 Cannabis konsumiert, der andere jedoch nicht. Bei ersteren war die Wahrscheinlichkeit des späteren Gebrauchs von „Party-Drogen" um den Faktor 7 und des späteren Konsums von „harten Drogen" um den Faktor 16 höher als bei den Zwillingspartnern, die vor dem Alter von 18 kein Cannabis konsumiert hatten. Die Autoren schlossen daraus, dass zumindest familiäre Einflüsse – sowohl genetischer als auch sozialer Art – die unterschiedlichen Abfolgen nicht erklären konnten.[27] [28]
Folgen für Gesundheitspolitik
Wenn die drogenübergreifende Motivationslage des Konsumenten (common liability) die Hauptursache für den Konsum weiterer Drogen ist, wurde vorgeschlagen, bei Maßnahmen zur Risikobegrenzung – wie Information und Unterstützung persönlicher Entwicklung – eher die Ausgangslage von Personen als die besonderen Eigenschaften einzelner Drogen ins Zentrum der Politik stellen.[29]
Wenn die biologische Prägung (im Gehirn) durch eine früher konsumierte Droge auch beim Menschen eine bedeutende Rolle spielt, ist eine ursächliche Wirkung dieser Droge gegeben. Als Maßnahme zur Risikobegrenzung wurde für diesem Fall vorgeschlagen, gezielt die Droge selbst ins Zentrum der Politik stellen, zum Beispiel durch Begrenzung der Zugänglichkeit – insbesondere für Personen im frühen Alter oder mit anderen Risiken.[30]
Kritik und Antithese
Cannabis
Gegen die These von Cannabis als Einstiegsdroge spricht, dass etwa in Japan, wo Cannabis deutlich weniger verbreitet ist als in den meisten anderen Ländern der Welt, 83 Prozent aller Nutzer von illegalen Drogen nicht als erste illegale Droge Cannabis konsumiert haben.[31] Das Bundesverfassungsgericht befand 1994, die These von Cannabis als Einstiegsdroge werde „überwiegend abgelehnt".[32] [33]
Das Portal drugcom der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schreibt:
„Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Weg in den Drogengebrauch und seine mögliche Verhaltensverfestigung ist durch komplexe Ursachen und Verläufe charakterisiert. Dabei sind Haschisch oder Gras nur ein Faktor von vielen und auch angesichts aktueller Studienergebnisse ganz sicher nicht die Einstiegsdroge."
Nach der Übersichtsarbeit von Hoch et al. (2015) bestehe zwar ein Korrelation, die Frage der Kausalität (vgl. auch Fehlschluss: Irrelevante Bezugsgröße) sei aber offen:
„Verschiedene Studien belegen einen Zusammenhang zwischen frühem, regelmäßigen Cannabisgebrauch und einem weiterführenden Konsum von anderen illegalen Drogen oder Alkohol. Dass Cannabis als Zugangssubstanz für den Gebrauch weiterer Substanzen fungiert („Gateway-Hypothese") ist jedoch empirisch nicht belegt."
Allgemein
2017 wurden der Einstiegsdrogen-Hypothese im Allgemeinen noch erhebliche Wissenslücken von Miller und Hurd attestiert:
„Overall, the concept of the gateway hypothesis has inspired a large body of research, but there remain significant gaps of knowledge before we are able to fully accept or refute the hypothesis."
„Insgesamt hat das Konzept der Gateway-Hypothese einen umfangreichen Bestand an Forschungsmaterial angeregt, aber es gibt noch erhebliche Wissenslücken, bevor wir die Hypothese vollständig akzeptieren oder widerlegen können."
Siehe auch
Literatur
Wissenschaftliche Einführungen
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Allgemeinverständliche Einführung
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Weblinks
- Veronika Schlimpert: Einstiegsdroge E-Zigarette: Wer dampft, raucht auch bald: Die Bundesregierung diskutiert ein Abgabeverbot für E-Zigaretten an Minderjährige. Eine Studie aus den USA liefert jetzt neuen Zündstoff in dieser Diskussion, Ärzte Zeitung, 23. September 2015.
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Einzelnachweise
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