Pflanzenphysiologie
Die Pflanzenphysiologie ist die Wissenschaft von den Lebensvorgängen (Physiologie) der Gewächse. Ein zentraler pflanzlicher Prozess ist die Photosynthese, welche die Primärnahrung und den Sauerstoff hervorbringt. Außerdem werden Zellatmung, Wachstums, Differenzierung, Reaktionen auf Umweltreize, Stofftransporte und die Kommunikation zwischen Zellen und Geweben der Organismen untersucht. Die 1865 von Julius Sachs etablierte Pflanzenphysiologie wurde 2015 als „Systembiologie photoautotropher Organismen (Pflanzen, Algen, Cyanobakterien)" definiert.[1] [2]
Teilgebiete
Im Strasburger Lehrbuch der Pflanzenwissenschaften werden fünf einander vielfach überschneidende Teilbereiche der Physiologie aufgelistet:[3]
- Stoffwechselphysiologie: die chemischen und physikalischen Vorgänge des Stoff- und Energiewechsels,
- Entwicklungsphysiologie: Wachstum, Differenzierung und Fortpflanzung,
- Bewegungs- oder Reizphysiologie: Reaktionen auf Reize aus der Umgebung,
- Allelophysiologie: Interaktion mit anderen Organismen,
- Ökophysiologie: Einbettung in den Lebensraum.
Das aktuelle Lehrbuch Physiologie der Pflanzen basiert hingegen auf einem systembiologischen Ansatz, der die grünen Organismen als von Bakterien besiedelten Holobionten interpretiert.[4]
Geschichte
Antike bis 18. Jahrhundert
Die frühesten Beobachtungen zur Physiologie der Pflanzen sind uns aus der Antike überliefert. [5]
Aristoteles nahm an, dass die Pflanze ihre Nahrung aus der Erde entnimmt und dass diese vollkommen ist, da im Unterschied zu Tieren und zum Menschen keine Exkremente ausgeschieden werden. Diese und andere Auffassungen von Aristoteles wurden über eine sehr lange Zeit nur weitergegeben. Erst 1671 unterzog Marcello Malpighi die auf Aristoteles zurückgehende Lehre einer Prüfung, wobei er aufgrund von Experimenten zu dem Ergebnis kam, dass der Nahrungssaft in den Blättern durch die Kraft des Sonnenlichts verarbeitet („ausgekocht") wird und erst dadurch das Wachstum bewirken kann. Als Vorläufer der experimentellen Pflanzenphysiologen kann Stephen Hales, ein Schüler Isaac Newtons, mit seinen Vegetable Staticks (1727, deutsch: Statick der Gewächse, 1748) gelten. Er stellte als Erster systematische Versuchsreihen zum Wasserhaushalt der Pflanzen (Transpiration) an und konstatierte, dass nicht der von der Wurzel ausgehende Saftdruck, sondern die Transpiration der Blätter hauptsächlich den Saftstrom bewirkt.[6]
Der Arzt Jan Ingenhousz 1779 konnte nachweisen, dass die grünen Blätter im Licht Sauerstoff bilden, nicht aber in Dunkelheit. Damit hatte Ingenhousz den Zusammenhang von Photosynthese und Atmung auf der Ebene des Gasaustauschs aufgeklärt. Er stellte desweiteren fest, dass die Pflanze der aufgenommenen Kohlensäure den Kohlenstoff als Nahrung entnimmt und den Sauerstoff „aushaucht".[7]
19. und 20. Jahrhundert
Neue Erkenntnisse steuerte im frühen 19. Jahrhundert Henri Dutrochet bei. Dazu gehören seine Untersuchungen zur Bedeutung der Osmose und zur Funktion der Spaltöffnungen an der Unterseite der Blätter. Er zeigte, dass der Interzellularraum mancher pflanzlicher Gewebe für Luft durchlässig ist und dass bei Teichrosen ein Gasaustausch von den Spaltöffnungen bis in die Wurzel erfolgt. Auch unterschied er zwischen der durch Osmose bedingten Saftströmung, die Mariotte untersucht hatte, und dem von Hales untersuchten Aufstieg des Saftes. Ebenso machte er klar, dass die Plasmaströmung innerhalb der Zellen mit dem Saftaufstieg nichts zu tun hat.[8]
Diesen experimentellen Untersuchungen standen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend spekulative Anschauungen gegenüber, wonach die physiologischen Prozesse auf einer „Lebenskraft" beruhen (Vitalismus) und Lebendes nur aus Lebendem hervorgehen kann. Dazu gehörte die auf Aristoteles zurückgehende Humustheorie, die besonders von Albrecht Thaer vertreten wurde und postulierte, dass die Pflanze sich vom Humus ernährt. Derartige Vorstellungen blieben trotz der Untersuchungen von de Saussure und Anderen noch jahrzehntelang vorherrschend. Die Wende brachte eine Arbeit von Justus von Liebig (1840), in der er eine Mineraltheorie formulierte und diese durch die Verwendung mineralischen Düngers in landwirtschaftlichen Versuchen untermauerte. Liebig nahm allerdings fälschlich an, dass die Pflanze den Stickstoff aus der Atmosphäre entnehme, was Jean-Baptiste Boussingault (1843/44) widerlegte. Nachdem ihm aufgefallen war, dass Pflanzen besonders gut auf Parzellen wachsen, die im Jahr zuvor mit Hülsenfrüchtlern (Leguminosen) bestellt waren, wies Boussingault nach, dass diese (anders als Getreide) Luftstickstoff assimilieren können. Erst 1888 wurde klar, dass dies eine Leistung von Bakterien in den Wurzelknöllchen der Leguminosen ist.[9] [4]
Der bedeutendste Pflanzenphysiologe und Begründer dieser Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Julius Sachs.[1] [2] [4] Er führte die Hydrokultur ein, um die Funktion der Wurzel zu untersuchen und zu ermitteln, welche chemischen Elemente für das Pflanzenwachstum im Wurzelraum notwendig sind. Dabei entdeckte er, dass das Wasser und die Nährstoffe durch die feinen Wurzelhaare aufgenommen werden. Weiter identifizierte er die Stärke als Produkt der Photosynthese und fand heraus, dass sie am Tag (im Licht) in den Chloroplasten angereichert und in der Nacht (im Dunkeln) wieder abgebaut wird. Bei der Keimung stärkehaltiger Samen untersuchte er den Abbau der Stärke, und er wies nach, dass Schließzellen und Wurzelspitzen auch dann Stärke enthalten, wenn sie in anderen Teilen der Pflanze verschwunden ist. Große Bedeutung erlangten seine Lehrbücher der Botanik und der Pflanzenphysiologie, auch als englische Übersetzungen.[1] [2] [9] [10]
Im späten 19. Jahrhundert verlagerte sich das Interesse der Pflanzenphysiologen zunehmend auf die Ebene der Zelle, vor allem dank der Arbeiten Wilhelm Pfeffers, der den Protoplasten, das Innere der Pflanzenzelle (ohne die Zellwand), als den pflanzlichen „Elementarorganismus" bezeichnete und von diesem und seinen Teilen her die Physiologie erforschen wollte. Parallel dazu ging die bislang nur beschreibende und vergleichende Morphologie teils in eine „kausale Morphologie" über, die auf experimentellem Weg nach den Ursachen pflanzlicher Formbildung suchte. Hier wurde Karl von Goebel der bedeutendste Vertreter. Ebenso traten in der Anatomie, der Untersuchung der Gewebe, kausale Fragestellungen in den Vordergrund, vor allem durch Gottlieb Haberlandt.[11]
Bedeutung heute
Grundlagen des Zellstoffwechsels
In der durch Pfeffer angestoßenen Richtung erlebte die pflanzenphysiologische Forschung im 20. Jahrhundert einen enormen Aufschwung; die Zahl der jährlich erscheinenden Publikationen vervielfachte sich. Naturforscher wie Erwin Bünning und Erwin Schrödinger ergründeten die systembiologischen Grundlagen des Zellstoffwechsels. Durch die Fortschritte der Biochemie und die Begründung der Molekularbiologie in den 1950er Jahren konnten u. a. die Mechanismen der Photosynthese erforscht werden. Ausschlaggebend waren dabei nicht nur theoretische Erwägungen oder neue Konzepte, sondern insbesondere zahlreiche neue experimentelle Techniken.[12]
Systembiologie und globale Photosynthese
Mit der Etablierung der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) als Modellorganismus und der Sequenzierung des Genoms dieses „Unkrauts" (1990) konnte die Pflanzenphysiologie zu einem Teilgebiet der Systembiologie ausgebaut werden.[1] [2] [4] Diese reformierte Sicht der Biowissenschaften basiert auf dem Grundsatz, den Organismus als Ganzes (Phänotyp), einschließlich seiner Mikroben (bakterielle Symbionten usw.), zu verstehen. Aktuelle pflanzenphysiologische Themen reichen von der Erforschung der Stammzellen-Dynamik über Analysen von Auferstehungspflanzen, dem Wassertransport unter Berücksichtigung synthetischer Bäume, dem Stofftransport auf Grundlage Herz-artiger molekularer Pumpen, der Genomanalytik und Epigenetik, der Sex-Gender-Problematik, der Hormon- und Schattenvermeidungs-Physiologie, den kommunizierenden Pilzwurzeln, der Stickstoffversorgung mit Bezug zur Welternährung, dem Tier-ähnlichen Pflanzenverhalten, bis zur Ergründung der globalen Photosynthese. Hierbei wird der Klimawandel, wie auch die Grüne Gentechnik und die Frage bezüglich einer Pflanzenintelligenz in experimentelle wie theoretische Analysen einbezogen.[12] [13] [14]
Literatur
- Dieter Heß: Pflanzenphysiologie. 11. Aufl., Ulmer, Stuttgart 2008.
- Ulrich Kutschera: Physiologie der Pflanzen. Sensible Gewächse in Aktion.LIT-Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-643-14226-9
- Peter Schopfer & Axel Brennicke: Pflanzenphysiologie. Spektrum/Springer, 7. Auflage, Heidelberg 2010, Nachdruck 2016. ISBN 978-3-8274-2351-1. (Inhaltsverzeichnis)
- Lincoln Taiz, Eduardo Zeiger, Ian Max Møller, Angus Murphy: Fundamentals of Plant Physiology. Sinauer, 2018.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ a b c d 150 years of an integrative plant physiology
- ↑ a b c d Basic versus applied research: Julius Sachs (1832–1897) and the experimental physiology of plants
- ↑ Joachim W. Kadereit, Christian Körner, Benedikt Kost, Uwe Sonnewald: Strasburger Lehrbuch der Pflanzenwissenschaften. 37. Aufl., Springer Spektrum, Berlin/Heidelberg 2014, S. 334.
- ↑ a b c d Ulrich Kutschera: Physiologie der Pflanzen. Sensible Gewächse in Aktion. LIT-Verlag, Berlin, 2019, S. 633–639.
- ↑ Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Gustav Fischer, Stuttgart 1973. S. 5–7.
- ↑ Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Gustav Fischer, Stuttgart 1973. S. 80–84.
- ↑ Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Gustav Fischer, Stuttgart 1973. S. 84–86.
- ↑ Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Gustav Fischer, Stuttgart 1973. S. 87–89.
- ↑ a b Ilse Jahn (Hrsg.): Geschichte der Biologie. 3. Aufl., Sonderausgabe Nikol, Hamburg 2004, S. 319f.
- ↑ Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Gustav Fischer, Stuttgart 1973. S. 206–211.
- ↑ Ilse Jahn (Hrsg.): Geschichte der Biologie. 3. Aufl., Sonderausgabe Nikol, Hamburg 2004, S. 499–501.
- ↑ a b Ilse Jahn (Hrsg.): Geschichte der Biologie. 3. Aufl., Sonderausgabe Nikol, Hamburg 2004, S. 505-508.</
- ↑ Ulrich Kutschera: Physiologie der Pflanzen. Sensible Gewächse in Aktion. LIT-Verlag, Berlin, 2019, S. 633–662.
- ↑ YouTube-Video Physiologie der Pflanzen. 1.: Lebende Sonnenkraftwerke mit Herz ohne Seele, 2018