Hatun Sürücü

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Hatun Aynur Sürücü (* 17. Januar 1982 in Berlin; † 7. Februar 2005 in Berlin) Deutsche Staatsbürgerin kurdischer Herkunft. Sie wurde von ihrem jüngeren Bruder an einer Bushaltestelle in Berlin ermordet. Ihr Tod sorgte bundesweit für Empörung und löste eine Debatte über Zwangsehen und Wertvorstellungen von in Deutschland lebenden muslimischen Familien aus. .

Leben

Sürücüs Eltern sind sunnitische Kurden aus der ostanatolischen Provinz Erzurum in der Türkei. Sie kamen als Gastarbeiter Anfang der 1970er Jahre nach Deutschland und West-Berlin. Acht von neun Kindern der Familie wurden hier geboren. Nachdem sich die Tochter Hatun immer mehr gegen die in anatolische Traditionen verwurzelte Familie aufgelehnt hatte, meldete ihr Vater Kerem Sürücü sie von einem Kreuzberger Gymnasium ab. Sie wurde im Alter von 16 Jahren mit einem Cousin in der Türkei zwangsverheiratet und bekam 1999 ein Kind von ihm. Bald kehrte sie jedoch allein mit ihrem Sohn Can nach Berlin zurück, da sie sich mit ihrem Mann und dessen strenggläubiger Familie zerstritten hatte.

Im Oktober 1999 zog sie aus der Wohnung ihrer Eltern in Kreuzberg beim Kottbusser Tor aus. Sürücü fand in einem Wohnheim für minderjährige Mütter eine Zuflucht und konnte dort ihren Hauptschulabschluss nachholen. Zugleich suchte sie eine psychotherapeutische Unterstützung auf. Anschließend bezog sie eine eigene Wohnung in Berlin-Tempelhof und begann eine Lehre als Elektroinstallateurin. Sie beendete die Lehre erfolgreich und stand kurz vor dem Abschluss ihrer Gesellenprüfung.

Ermordung

Am 7. Februar 2005 wurde sie vor ihrer Wohnung an einer Bushaltestelle mit drei Kopfschüssen getötet. Als Tatverdächtige nahm die Polizei am 14. Februar 2005 drei ihrer Brüder fest. Als Motiv wird ein sogenannter Ehrenmord vermutet, da Sürücü ihren Ehemann wie ihre Familie verlassen und sich entschlossen hatte, ein selbständiges Leben zu führen. Der Polizei waren mehrere Drohungen bereits vor dem Mord gemeldet worden.

Reaktionen

In der Öffentlichkeit wurde der Mordfall sofort mit sechs weiteren Tötungsdelikten in Berlin seit Oktober 2004 in Verbindung gebracht, bei denen man als Tatmotiv einen sogenannten „Ehrenmord" an einer Frau vermutete. Weitere Aufmerksamkeit erregte der Fall durch die Diskussion in einer achten Klasse der Thomas-Morus-Oberschule in Berlin-Neukölln, in der drei Schüler den Mord billigten („Die hat doch selbst Schuld. Die Hure lief rum wie eine Deutsche"), woraufhin der Schuldirektor Volker Steffens einen offenen Brief an die Eltern veröffentlichte („Diese Schüler zerstören den Frieden des Schullebens, wenn sie den Mord gutheißen. Wir dulden keine Hetze gegen die Freiheit."). Damit löste er eine bundesweite Reaktion in den Printmedien und eine erneute Diskussion über ein Pflichtfach Wertekunde an Berliner Schulen aus. Bundespräsident Horst Köhler dankte Steffens in einem Brief vom Juli 2005 für sein Engagement und merkte an: „Ein falsches Verständnis von Toleranz, Harmoniestreben oder mangelnde Courage dürfen nicht dazu führen, dass grundlegende Regeln des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden". Die Schüler erhielten eine Abmahnung, was jedoch ein zweigeteiltes Echo unter den Lehrern fand.

Am 22. Februar 2005 fand am Tatort eine Mahnwache statt, an der etwa 100 Deutsche und Türken gemeinsam teilnahmen. Zu ihr hatte der Berliner Lesben- und Schwulenverband aufgerufen. Eine weitere, von Politikern und Künstlern initiierte Mahnwache fand am 24. Februar statt. Politiker und Frauenrechtlerinnen forderten von türkischen und islamischen Verbänden in Deutschland eine klare Stellungnahme zum Thema Ehrenmord. Am 5. März demonstrierten mehr als tausend Menschen, aufgerufen von Terre des Femmes und fast allen Berliner Frauenverbänden innerhalb und außerhalb der Parteien, beim Rathaus Neukölln gegen den Ehrenmord. Beim Internationalen Frauentag am 8. März 2005 wurde in vielen deutschen Städten gegen die Ermordung Sürücüs und gegen das Verbrechen sogenannter „Ehrenmorde" protestiert.

Der Türkische Bund Berlin-Brandenburg hat aus diesem Anlass am 4. März 2005 einen Zehn-Punkte-Plan „Zur Bekämpfung der Intoleranz gegenüber Frauen" vorgestellt. Darin fordert der Verband u.a. eine „strikte Strafverfolgung der Zwangsverheiratung" und ein „öffentliches und aktives Bekenntnis aller türkischen und islamischen Organisationen zum Selbstbestimmungsrecht der Frauen."

Das Motto „Vergesst niemals Hatun!" Kampagne gegen Ehrenmorde wurde am Internationalen Frauentag 2006 in Köln zum Leitmotiv einer Konferenz von muslimischen Frauenrechtlerinnen, die von Terre des Femmes, Women's Liberation-Iran, No Shari'a – International Campain Against Shari'a Court in Canada und dem Internationalen Komitee gegen Steinigung unterstützt wurde. [1] [2]

Ein Jahr nach der Ermordung Sürücüs betonten durchweg alle deutschen und türkischen Vertreter von Organisationen, die näher mit ihrem Tod und seinen Hintergründen beschäftigt waren, daß zwischenzeitlich ein langsames Umdenken auf beiden Seiten eingesetzt hätte. Dies wäre zwar nur ein Anfang, doch nach vierzig Jahren türkischer Migration nach Deutschland eine dennoch hoffnungsvolle Perspektive. Hatun Sürücüs Sohn Can lebt heute bei einer Pflegefamilie.

Prozess

Im Juli 2005 erhob die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen die drei Männer wegen gemeinschaftlichen Mords aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen. Das Motiv war laut den Ermittlungen gekränkte Familienehre; die Brüder hätten sich für die Schwester geschämt, die eigenständig lebte und kein Kopftuch trug. Auch hätten sie befürchtet, sie würde ihren Sohn nicht gemäß dem Islam erziehen. Der älteste Angeklagte Mutlu (* 1980) soll die Waffe besorgt und der jüngere Bruder Alpaslan (* 1981) in Tatortnähe moralischen Beistand geleistet haben. Am 14. September 2005 gestand ihr jüngster Bruder Ayhan (* 1986) den Mord. Am 9. März 2006 versuchte er, während eines Gefangenentransports zu entkommen. Dies war der erste Fluchtversuch aus einem Gefangenentransport in Berlin seit 1987 [3] . Am 13. April 2006 wurde Ayhan für schuldig befunden und zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt. Alpaslan und Mutlu wurden freigesprochen, da das Berliner Landgericht ein Mordkomplott aller Brüder als nicht erwiesen ansah.

Prozessbeobachter wie die Rechtsanwältin Ulrike Zecher [4] und die Soziologin Neclá Kelek werten dieses Eingeständnis als Taktik, um die Familie als verantwortliche Ordnungsmacht zu entlasten. Ihr Kollege Schiffauer bestreitet das Tatmotiv "Ehrenmord", obwohl er auch nichts über die Anzahl und Motive der Mittäter und -wisser weiß. Am 11. Februar 2005 bekam Ayhan von seinem Vater eine Armbanduhr geschenkt. Nach Aussage der Ermittler werde in strenggläubigen islamischen Familien eine Uhr als Geschenk des Vaters für den Sohn als belohnend und aufwertend gesehen [5] . Jedes Mal, wenn die Hauptzeugin und ihre Mutter mit Bodyguards und Schusswesten den Gerichtssaal betraten, krempelte der Angeklagte Ayhan Sürücü den Ärmel nach oben und zeigte demonstrativ seine goldene Armbanduhr [6] . Mittlerweile ist Ayhan Sürücü „bei vielen jungen Türken und Kurden längst zum Idol geworden" [7] , in der Jugendstrafanstalt Kieferngrund habe er eine „herausgehobene Position" und Märtyrerposition". Die Verteidigung versuchte, die Glaubwürdigkeit der Hauptzeugin Melek mit Kreuzverhören und Gutachten zu erschüttern, um die These der Alleintäterschaft zu erhärten. Die Hauptzeugin Melek und auch ihre Mutter stehen unter einem Zeugenschutzprogramm.

Urteil

Am 13. April 2006 verurteilte das Berliner Landgericht den jüngsten Angeklagten Ayhan Sürücü zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten und sprach die beiden mitangeklagten älteren Brüder aus Mangel an Beweisen frei. Die Staatsanwaltschaft legte umgehend beim Bundesgerichtshof Revision gegen das Urteil ein.

Das Urteil stieß auf geteilte Reaktionen in den Medien und der Fachöffentlichkeit. Erst gegen Ende des Prozesses wurde zunehmend mehr Kritik an der nachlässigen Prozessführung geübt [8] . So etwa wurde kritisiert, dass Hinweisen auf die Anwendung von sexueller Gewalt gegenüber Hatun Sürücü nicht nachgegangen wurde und dass geschrieene Drohungen der Angeklagten nicht angemessen vom Vorsitzenden Richter reglementiert wurden. Politiker wie Cem Özdemir und der Orientalist Hans-Peter Raddatz kritisierten den Richterspruch als zu nachsichtig. Berlins Innensenator Körting begrüßte dagegen das Urteil als Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaats. Gleichwohl legte er der Familie Sürücü die Ausreise aus Deutschland nahe. Die Berliner CDU-Fraktion forderte eine Änderung des Strafrechts für jugendliche Straftäter, da eine Volljährigkeit auch eine volle Straffähigkeit voraussetze. Sibylle Schreiber von Terre des Femmes äußerte, das Urteil sei ein falsches Signal für Täter und forderte ein Ende der Toleranz der Deutschen gegenüber den „Parallelgesellschaften" [9] .

Filmografie

Drama

Literatur

  • Schöller, Tilman (2005): Halbmond über Palästina - in memoriam Hatun Sürücü. In: Ketzerbriefe 127, ISBN 3-89484-236-9
Reportagen
Interviews

Prozess


Personendaten
NAME Sürücü, Hatun Aynur
ALTERNATIVNAMEN KURZBESCHREIBUNG=Deutsche türkischer Abstammung, ermordet (Ehrenmord)
GEBURTSDATUM 1982
GEBURTSORT Berlin
STERBEDATUM 7. Februar 2005
STERBEORT Berlin-Tempelhof
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