Dietrich Wagner
Dietrich Wagner (* 1945) ist ein deutscher Ingenieur aus Stuttgart.[1] [2] Er erlitt am 30. September 2010 schwere Augenverletzungen durch einen Wasserwerfer bei der gewaltsamen Räumung des Stuttgarter Schlossgartens für das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 und den damit verbundenen Protestaktionen in Stuttgart.[3] [4] [5]
Räumung und Verletzungen bei Wagner
Wagner war nach eigenen Angaben zunächst nicht gegen das Großprojekt, wurde aber bei Gesprächen mit Projektgegnern davon überzeugt, dass es unsinnig sei. Er war davor mit Ausnahme seiner Studentenzeit in Tübingen kaum politisch aktiv.
Bei der Räumung des Schlossgartens zum Baumfällen wurde Wagner vom Strahl eines Wasserwerfers der Polizei im Gesicht getroffen.[6] [7] Die Zeitschrift Stern schilderte Wagners Darstellung, dieser habe „versucht, Jugendlichen zu helfen, die vom Strahl des Wasserwerfers weggefegt worden waren. Deshalb habe er die Arme hochgerissen und den Polizisten gewunken, um ihnen zu bedeuten, sie sollten aufhören. Dann traf ihn selbst der Wasserstrahl direkt ins Gesicht."[8] [9] Die Stuttgarter Polizei warf Wagner eine Mitschuld vor, da er sich „nicht weggeduckt" habe.[9] Nach den Angaben Wagners stand der Wasserwerfer etwa 13 m entfernt von ihm. [10] Polizeipräsident Siegfried Stumpf führt an: „Wir haben den Mann hinter den Barrikaden immer wieder beiseite genommen, doch er ist immer wieder zurückgelaufen. Er selbst hat sich direkt in den Strahl gestellt."[11]
Ein von der Polizei am 30. September aufgenommenes und von Sat.1 am 6. Oktober 2010 ausgestrahltes Video zeigte, wie er einen nicht genau zu erkennenden Gegenstand wirft. Auch das Ziel ist nicht zu erkennen.[6] Wagner räumte daraufhin ein, „zwei oder drei Kastanien" geworfen zu haben, und sprach von einem „symbolischen Akt": „Da wurden hunderte von Kastanien geschmissen, aber ohne jeglichen Effekt, weil die Polizisten mit dicken Uniformen, Helmen und Visieren ausgerüstet waren."[10] Wagner betonte, es sei in deutlichem zeitlichem Abstand zur Verletzung durch den Wasserwerfer geschehen. Er habe die Polizei also nicht provoziert.[12]
Der Chefarzt Egon Georg Weidle stellte im Katharinenhospital Stuttgart bei Wagner beidseitig schwere Prellungsverletzungen, zerrissene Augenlider, Augenbodenbruch, eine eingerissene Netzhaut und zerstörte Linsen fest.[13] Das linke Auge bleibt völlig zerstört und nimmt nur noch am linken Rand einen Lichtschein wahr. Die Sehkraft des anderen Auges beträgt 8 % und wird nicht mehr zum Lesen oder Autofahren reichen.[14]
Im Katharinenhospital und in der Charlottenklinik für Augenheilkunde mussten 16 weitere Augenverletzte behandelt werden, darunter 4 stationär.[15]
Politische und juristische Folgen
Fotos, die Wagner zeigen, wie er blutend von zwei Mitdemonstranten gestützt wird, wurden in fast allen deutschen Medien veröffentlicht.[16] Bei den folgenden Demonstrationen erinnerten einige Demonstranten mit roter Farbe im Gesicht an Wagner.[17] [18] Wagner wurde zu einem Symbol der Demonstrationen und der polizeilichen Gewalt in Stuttgart erklärt.[15] Die Rheinische Post bezeichnete Wagner als „Symbolfigur von Stuttgart 21",[19] und der Westdeutsche Rundfunk als „Symbol für Polizeigewalt".[20] Die Süddeutsche Zeitung sieht in ihm das „Gesicht des Widerstands".[21] Nach Jakob Augstein „dürfte [das Bild] großen Anteil daran gehabt haben, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Mappus sein Amt verlor."[22]
Der damalige Innenminister von Baden-Württemberg, Heribert Rech (CDU), besuchte Wagner nach dem Vorfall im Krankenhaus. Eine Entschuldigung erhielt Wagner jedoch nicht. Die Bundestagsabgeordnete Karin Maag (CDU), thematisierte das Bild des Verletzten am 6. Oktober 2010 bei einer Rede im Deutschen Bundestag, und bezeichnete die Abbildung dabei als manipulativ, die polizeiliche Aufarbeitung der Geschehnisse müsse abgewartet werden.[23]
Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft prüfte, ob es einen Anfangsverdacht gegen Wagner wegen Körperverletzung an den Polizisten gibt.[24] Wagner kritisierte dies. Das Verfahren gegen ihn wurde später eingestellt.
Nach der Beweisaufnahme ermittelte man gegen Wagner auch wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Sachbeschädigung", nachdem dieser neben Kastanien auch einen Stein gegen eines der Polizeifahrzeuge geworfen haben soll. Die Ermittlungen wurden 2011 eingestellt, weil Wagner in Folge der erlittenen Verletzungen schon genug gestraft sei.[25]
Wagner erstattete Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen Innenminister Rech.[26] Am 28. Oktober 2010 reichten Dietrich Wagner und drei weitere Verletzte vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart eine Klage gegen das Land Baden-Württemberg ein, um die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes prüfen zu lassen. Sie werden vom Stuttgarter Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann vertreten, ehemals Leiter der Rechtsabteilung von Greenpeace.[27] [28] [29] Im Verfahren gegen zwei Einsatzabschnittsleiter, die laut Anklage „sorgfaltswidrig den Einsatz von Wasserwerfern" zugelassen haben sollen, ist Wagner einer der Nebenkläger.[30] Etwa ein Jahr nach dem Vorfall gab er gegenüber Journalisten an, er sehe im „30. September 2010 das drittschlimmste Verbrechen, das der gesamtdeutsche Staat nach dem Zweiten Weltkrieg begangen" habe.[31] Das Verwaltungsgericht Stuttgart erklärte im November 2015 den Polizeieinsatz für rechtswidrig.[32]
Wagner engagiert sich weiter für den Widerstand gegen Stuttgart 21.[33] [34]
Dietrich Wagner selbst engagiert sich seit dem Vorfall gegen die Verwendung von Wasserwerfern durch die Polizei. 2014 besuchte er das Vereinigte Königreich und forderte von Theresa May (Home Secretary), die Verwendung von Wasserwerfern nicht zu autorisieren.[35]
Ehrungen
- 2011 wurde er mit dem Georg-Elser-Preis ausgezeichnet
Weblinks
- Tristana Moore: German Railway Controversy Sends Angela Merkel Off Track. In: Time, 8. Oktober 2010.
Einzelnachweise
- ↑ Dietrich Wagner (66): „Ich wollte nur den Jugendlichen helfen". In: Hamburger Abendblatt, 6. Oktober 2010 (online)
- ↑ Ein Video und viele neue Fragen. In: Spiegel Online, 7. Oktober 2010 (online)
- ↑ Protest gegen „Stuttgart 21" eskaliert. In: Bild, 30. September 2010 (online)
- ↑ Fast erblindeter Aktivist will Entschuldigung von Mappus. In: Spiegel Online, 28. Dezember 2010 (online)
- ↑ Wasserwerfer verletzte Dietrich Wagner schwer: Stuttgarter Demonstrant droht zu erblinden. In: RP Online, 9. Oktober 2010 (online)
- ↑ a b Ein Video und viele neue Fragen. In: Spiegel online, 7. Oktober 2010 (online)
- ↑ Die zerrissenen Augenlider des Rentners Wagner. In: Stuttgarter Zeitung, 6. Oktober 2010 (online)
- ↑ Der Mann mit den blutigen Augen. In: Stern, 6. Oktober 2010 (online)
- ↑ a b Dietrich W. duckt sich nicht weg. In: Frankfurter Rundschau, 5. Oktober 2010 (online)
- ↑ a b Ingrid Eißele, Anna Hunger: "Ich wollte einfach die Herren stoppen." In: Stern online, 7. Oktober 2010 (online)
- ↑ Eine Verletzung, zwei Geschichten. In: Stuttgarter Nachrichten (online)
- ↑ Rentner Wagner – ein Provokateur? In: Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 2010 (online)
- ↑ Stuttgarter Demonstrant droht zu erblinden. In: Focus online, 6. Oktober 2010 (online)
- ↑ Verletzter Demonstrant bleibt auf einem Auge blind. In: Die Zeit, 14. Oktober 2010 (online)
- ↑ a b Demonstrant bleibt auf einem Auge blind. In: Die Welt online, 13. Oktober 2010 (online)
- ↑ Demonstranten drohen zu erblinden. In: Stuttgarter Zeitung vom 6. Oktober 2010 (online)
- ↑ Stuttgart 21: Blutiger Protest. In: RP online, 22. Oktober 2010 (online)
- ↑ Martin Kaul: An der Realität erblindet. In: die tageszeitung, 6. Oktober 2010 (online)
- ↑ Dietrich Wagner, Symbolfigur von Stuttgart 21. Fotostrecke. In: Rheinische Post (online, abgerufen am 4. November 2011).
- ↑ Fernsehbeitrag des WDR über Wutbürger vom 29. September 2011 (online, abgerufen am 4. November 2011).
- ↑ Politik: Gesicht des Widerstands. In: Süddeutsche Zeitung, 30. September 2011 (online (Memento vom 7. April 2014 im Internet Archive ), abgerufen am 4. November 2011)
- ↑ Jakob Augstein: „Im Zweifel links: Im Zweifel zuschlagen", Spiegel Online vom 3. Juni 2013
- ↑ Karin Maag: Rede im Deutschen Bundestag am 6. Oktober 2010 (online)
- ↑ Zweifel an Friedfertigkeit von Dietrich Wagner. In: Frankfurter Rundschau, 7. Oktober 2010 (online)
- ↑ Rainer Wehaus: Polizei will Strafe nicht akzeptieren. In: Stuttgarter Nachrichten. 20. September 2012, abgerufen am 24. Juni 2015.
- ↑ Roland Muschel: Ein Foto, zwei Geschichten. In: Der Tagesspiegel, 8. Oktober 2010 (online)
- ↑ Verletzte Demonstranten klagen gegen Polizeieinsatz. In: Die Welt, 28. Oktober 2010 (online)
- ↑ Klage wegen Prügel-Einsatz eingereicht. In: Kölnische Rundschau, 28. Oktober 2010 (online)
- ↑ Verletzte Stuttgart-21-Gegner klagen gegen Land. In: Westfälischer Anzeiger, 28. Oktober 2010 (online)
- ↑ Oliver im Masche, Christine Bilger: Polizisten weisen Vorwürfe zurück, Stuttgarter Zeitung vom 24. Juni 2014, abgerufen am 24. Juni 2014.
- ↑ Roman Deininger: Ein Jahr "Schwarzer Donnerstag." Süddeutsche Zeitung, 30. September 2011, abgerufen am 26. Dezember 2012 (deutsch).
- ↑ Gerichtsentscheid: Polizeigewalt gegen Stuttgart-21-Demonstranten war rechtswidrig. In: Spiegel online, 18. November 2015 (online)
- ↑ Einsatz-Opfer Dietrich Wagner demonstriert weiter. In: swr.de, 29. September 2011
- ↑ Was wurde eigentlich aus Dietrich Wagner? In: gulli.com, 9. April 2011 (online)
- ↑ People of Britain, beware of the water cannon': a warning from Dietrich Wagner, near-blinded in Stuttgart." The Telegraph . 21 February 2014. Retrieved on 22 March 2014.
Personendaten | |
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NAME | Wagner, Dietrich |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Demonstrant gegen das Projekt Stuttgart 21, erblindete nach Wasserwerferbeschuss |
GEBURTSDATUM | 1945 |