Subsistenzwirtschaft

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Die traditionelle Subsistenzwirtschaft der indigenen Völker Alaskas – fischen, jagen, sammeln – wird gesetz­lich geschützt und genießt Vorrang gegen­über markt­wirtschaft­lichen Bestre­bungen in diesen Wirtschafts­zweigen, weltweit eine Ausnahme[1]

Subsistenzwirtschaft oder Bedarfswirtschaft bezeichnet eine grundlegende wirtschaftliche Strategie, bei der die Produktion vorrangig der Selbstversorgung ohne nennenswerte Überschüsse dient. Im Unterschied zur reinen Selbstversorgung schließt sie jedoch auch den Tauschhandel eigener Erzeugnisse auf lokalen Märkten ein. Grundsätzlich steht dabei der Gebrauchswert der Güter im Vordergrund, nicht ihr möglicher Tauschwert. Das Ziel der Beteiligten ist nicht die Erwirtschaftung von Profit oder eine Gewinnmaximierung, sondern nur die Sicherstellung des eigenen Lebensunterhaltes.[2] [3]

Gruppen, die noch weitgehend traditionell subsistenzorientiert wirtschaften, werden als lokale Gemeinschaften bezeichnet. Geschichtlich gesehen war die Subsistenzwirtschaft bis zur Industrialisierung und dem sich dabei herausbildenden Kapitalismus das weltweit vorherrschende Prinzip des Wirtschaftens. Heute ist die Zahl reiner Subsistenzbetriebe nur noch in Entwicklungsländern von Bedeutung (siehe Subsistenzlandwirtschaft in Entwicklungsländern).

Begriffsabgrenzung

Das lateinische Wort subsistenz bezeichnet etwas „Durch-sich-Bestehendes". Demnach ist jede Form des Wirtschaftens auch eine Form der Subsistenz. Die erweiterte Bezeichnung „Subsistenzwirtschaft" unterscheidet sich durch konkrete Arten und Weisen, wie gearbeitet und gewirtschaftet wird und welche Ziele dabei angestrebt werden. Diese Merkmale sind grundlegend anders als beim Erwerbswirtschaften. Die reine Selbstversorgung mit einzelnen Produkten ist aber durchaus mit der Erwerbswirtschaft verträglich oder kann deren Unzulänglichkeiten teilweise ausgleichen.[4] [5]

Merkmale

Der Verkauf entbehrlicher Produkte durch ihre Erzeuger auf lokalen Märkten ist Teil vieler Subsistenz­wirtschaften

Die Nahrungsmittelproduktion in der Subsistenzwirtschaft dient an erster Stelle der Reproduktion der einzelnen Haushalte und zielt nicht auf das Erwirtschaften von Profiten ab.[6] Häufig geht die Subsistenzwirtschaft mit Naturalwirtschaft einher und unterscheidet sich von der Verkehrs- oder Marktwirtschaft, in welcher die einzelnen Güter und Dienstleistungen in der Regel gegen Geld auf dem Markt getauscht werden, um mit dem daraus erzielten Einkommen andere Güter oder Dienstleistungen zu beziehen.[7] Dies schließt nicht aus, dass auch in der Subsistenzwirtschaft sich ergebende Überschüsse auf lokalen Märkten verkauft werden, um Einnahmen für notwendige Investitionen zu erzielen, beispielsweise für Werkzeuge oder Salz.[8]

Der deutsche Soziologe Max Weber bezeichnet 1922 die Bedarfswirtschaft als der Erwerbswirtschaft entgegensetzt: Alle auf Bedarfsdeckung gerichteten Wirtschaftsgemeinschaften wirtschaften nur, soweit dies unumgänglich ist. Als Beispiele nennt er Familien, gemeinnützige Stiftungen oder Forstgemeinschaften.[9]

Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann sieht 1977 in der Subsistenzwirtschaft den Gegenbegriff zur Marktwirtschaft: Sie „läuft ohne nennenswerte monetäre Vermittlung" ab, ohne den Geldmechanismus.[10]

Subsistenzwirtschaft in der globalen Ökonomie

Im Zeitalter der Globalisierung werden subsistenzorientierte Strategien sehr unterschiedlich beurteilt.

Moralische Ökonomie

In gleichgestellten Gesell­schaften beruht das Miteinander der Menschen nicht auf Konkurrenz, sondern auf Kooperation

Das erste Prinzip der Subsistenzwirtschaft ist die Gegenseitigkeit, die heute als Leitbild für den Begriff der „moral economy" verwendet wird.[11] [12] [13]

Strategie der Existenzsicherung oder Ursache für Armut und Unterentwicklung?

Aus dem Blickwinkel der Überfluss­gesellschaft erscheint das Leben indigener Völker arm; die Indigenen selbst beurteilen das dagegen sehr unterschiedlich (hier Shuar-Indianer in Ecuador, 2011)

„Subsistenz – als kulturell definierte Armut – ist nicht gleichbedeutend mit geringer (physischer) Lebensqualität, ganz im Gegenteil, die Subsistenzlandwirtschaft hilft dem Haushalt der Natur und leistet einen Beitrag zum sozialen Wirtschaften. Auf diese Weise gewährleistet sie hohe Lebensqualität – siehe das Recht auf Nahrung und Wasser – sie gewährleistet eine nachhaltige Existenz, sie gewährleistet eine robuste soziale und kulturelle Identität und Lebenssinn."

Obgleich Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung (insbesondere in den Entwicklungsländern) durch Subsistenzorientierung ein weitgehend unabhängiges und selbstbestimmtes Auskommen haben,[15] wird diese Strategie der Existenzsicherung etwa von der Weltbank seit Mitte der 1960er Jahren weitgehend ignoriert oder gar mit Armut und Unterentwicklung gleichgesetzt.[16]

Selbst in den Augen linker Kritiker des Kapitalismus ist allein die Lohnarbeit in Fabriken und Büros gesellschaftlich notwendige Arbeit[17] – der existenzsichernden Subsistenzarbeit wird kein gesellschaftlicher Status zugesprochen.

Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts setzt sich zumindest in der Entwicklungspolitik langsam die Erkenntnis durch, dass Subsistenzwirtschaft dort eine wirtschaftliche Basis bietet, wo der Einzelne ansonsten vollkommen von der unvorhersehbaren Arbeitsmarktsituation abhängig wäre.

Semi-Subsistenz

95 Prozent aller Bauernhöfe in Rumänien werden heute der Halb- oder Semi-Subsistenz­landwirtschaft zugeordnet

Für die ländliche Entwicklung in der Europäischen Union wurde mit der beginnenden Osterweiterung ab 2004 die wichtige Bedeutung ergänzender Subsistenztätigkeiten für die besonders strukturschwachen Regionen Ost- und Südosteuropas erkannt. Als Semi-Subsistenz(land)wirtschaftsbetriebe (lateinisch semi „halb") werden seitdem kleine landwirtschaftliche Familienbetriebe bezeichnet, welche die lokale Vermarktung mit der Produktion zum Eigenbedarf kombinieren und bei denen ökonomische Verhaltensweisen eher durch Bedarfsorientierung als durch Wettbewerbsorientierung geprägt sind.[18]

Zur Abgrenzung von Semi-Subsistenzbetrieben werden drei Kriterien herangezogen: physische Maßzahlen, wirtschaftliche Größe und Marktbeteiligung. Eine häufig gewählte physische Maßzahl ist eine landwirtschaftliche Nutzfläche unter 5 Hektar. Als Grenzwerte für die wirtschaftliche Größe wird nach Eurostat ein jährlicher Produktionswert von weniger als 1200 Euro (= 1 EGE) als reine Subsistenzwirtschaft betrachtet und zwischen 1200 und 9600 Euro (= 8 EGE) für kleine landwirtschaftliche Semi-Subsistenzbetriebe. Nach wissenschaftlichen Studien wird für die Marktbeteiligung häufig angenommen, dass weniger als 50 Prozent der Produktion verkauft werden. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe, die als Subsistenz- und Semisubsistenzbetriebe eingestuft werden, hängt stark von den verwendeten Definitionen der einzelnen Mitgliedsstaaten ab, die teilweise deutlich unterschiedliche Maßzahlen benutzen. Sicher ist jedoch, dass in den sechs Mitgliedstaaten Bulgarien, Ungarn, Lettland, Litauen, Slowakei und Rumänien 2007 mindestens 95 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe kleiner als 8 EGE waren. Außerhalb Osteuropas überwiegt die Anzahl der Semisubsistenzbetriebe noch in Griechenland, Portugal, Spanien und insbesondere Italien.

Subsistenz- und Semisubsistenzbetriebe erfüllen drei Hauptfunktionen in der Landwirtschaft und der Entwicklung des ländlichen Raums: Sie fungieren als Puffer gegen Armut, als Basis für eine größere landwirtschaftliche Vielfalt und bieten ökologische und andere nichtgewerbliche Vorteile. Ihre Pufferfunktion ist am ausgeprägtesten in den neuen Mitgliedstaaten, insbesondere bei landwirtschaftlichen Haushalten, die in relativer Armut leben. Die rumänischen und schottischen Fallstudien veranschaulichen, wie Semisubsistenzbetriebe und kleine landwirtschaftliche Betriebe ökologische, kulturelle und gesellschaftliche Nutzeffekte bieten können.

Die Kluft zwischen Ablehnung und Anerkennung der Semi-Subsistenz existiert nach wie vor. Jedoch werden solche Betriebe zunehmend positiv wahrgenommen, da von ihnen wichtige Effekte für eine nachhaltige Entwicklung, für die kulturelle Vielfalt (beispielsweise traditionelle Anbaumethoden und Lebensmittelspezialitäten) oder den ländlichen Tourismus ausgehen.[19]

Umwelt

In den Biodiversitäts-Konvention der UNO wird ausdrücklich auf die Abhängigkeit traditionell subsistenzwirtschaftender Gemeinschaften von intakten Ökosystemen hingewiesen, denen sie seit alters her alles Lebensnotwendige entnommen haben. Die Konvention erkennt an, dass ihre Lebensweisen in besonderem Maße nachhaltig sind und die biologische Vielfalt nicht verringern. Im Gegensatz zu industrialisierten Gesellschaften, die nicht unmittelbar auf ein bestimmtes Gebiet angewiesen sind, haben solche Gemeinschaften ein direktes Interesse an der Aufrechterhaltung und dem Schutz dieser Ökosysteme, deren Stabilität sie nie gefährdet haben.[20]

In der Nachhaltigkeitsdebatte der Industrieländer wird – vor allem in Kombination mit der Idee der Wachstumsrücknahme – eine teilweise Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft mittels Gemeinschaftsgärten oder urbaner Landwirtschaft als mögliche Maßnahme zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme angesehen.[21]

Siehe auch

Literatur

  • Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies: Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive. Frauenoffensive, München 1997, ISBN 978-3-88104-294-9 (populärwissenschaftliche Einführung mit Beispielen aus Geschichte und Gegenwart und der besonderen Rolle der Frauen).
  • Josef Drexler: Öko-Kosmologie – die vielstimmige Widersprüchlichkeit Indioamerikas. Ressourcenkrisenmanagement am Beispiel der Nasa (Páez) von Tierradentro, Kolumbien (= Ethnologische Studien. Band 40). Lit, Münster 2009, ISBN 978-3-8258-1926-2 (Habilitationsschrift 2007 Universität München).
  • James C. Scott: The Moral Economy of the Peasant. Rebellion and Subsistence in South East Asia. 2. Auflage. Yale University Press, New Haven 1977, ISBN 0-300-02190-9 (englisch).
  • Alexander Wassiljewitsch Tschajanow: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Campus, Frankfurt 1998, ISBN 978-3-593-33846-0 (Erstausgabe 1923).
Wiktionary: Subsistenzwirtschaft  – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Thomas F. Thornton: Alaska Native Subsistence: A Matter of Cultural Survival. In: Culturalsurvival.org. 1998, abgerufen am 13. September 2014.
  2. Veronika Bennholdt-Thomsen: Subsistenzwirtschaft, Globalwirtschaft, Regionalwirtschaft. In: Maren A. Jochimsen, Ulrike Knobloch (Hrsg.): Lebensweltökonomie in Zeiten wirtschaftlicher Globalisierung. Kleine, Bielefeld 2006, S. 65–88, hier S. 70.
  3. Marshall Sahlins, zitiert bei Rhoda H. Halperin: Cultural Economies Past and Present. University of Texas Press, Austin 1994, S. 259 (englisch).
  4. Veronika Bennholdt-Thomsen: Subsistenzwirtschaft, Globalwirtschaft, Regionalwirtschaft. In: Maren A. Jochimsen, Ulrike Knobloch (Hrsg.): Lebensweltökonomie in Zeiten wirtschaftlicher Globalisierung. Kleine, Bielefeld 2006, S. 65–88, hier S. ??.
  5. Alexander Wassiljewitsch Tschajanow: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Campus, Frankfurt 1998, ISBN 978-3-593-33846-0, S. ?? (Erstausgabe 1923).
  6. Josef Drexler: Öko-Kosmologie – die vielstimmige Widersprüchlichkeit Indioamerikas. Ressourcenkrisenmanagement am Beispiel der Nasa (Páez) von Tierradentro, Kolumbien. Lit, Münster 2009, S. 38.
  7. Vergleiche dazu Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. 6. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt 1994, ISBN 3518287524, S. 97.
  8. Josef Drexler: Öko-Kosmologie – die vielstimmige Widersprüchlichkeit Indioamerikas. Ressourcenkrisenmanagement am Beispiel der Nasa (Páez) von Tierradentro, Kolumbien. Lit, Münster 2009, S. 38: Verweis in Fußnote 9 auf Sevilla Casas 1986, S. 230.
  9. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Teil 2, Band 1, § 1, 1922.
  10. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, S. 97.
  11. E. P. Thompson: The Making of the English Working Class. Penguin, Hammondsworth 1979.
  12. James C. Scott: The Moral Economy of the Peasant. Rebellion and Subsistence in Southeast Asia. Yale University Press, New Haven/London 1977.
  13. Maria Mies: Brauchen wir eine neue „Moral Economy"? In: Christiane von Busch-Lüty, Maren Jochimsen, Ulrike Knobloch, Irmi Seidl (Hrsg.) Politische Ökologie, Sonderheft „Vorsorgendes Wirtschaften", oekom, München 1994: S. 18-21.
  14. Vandana Shiva: How To End Poverty. Making Poverty History And The History Of Poverty. ZNet-Kommentar, 11. Mai 2005 (englisch).
  15. Urs Fankhauser: Mystery. Lokal, selbstbestimmt und nachhaltig. Weltweite Bedeutung des Family Farming. éducation21, Bern 2014, S. 8
  16. Elisabeth Meyer-Renschhausen (Hrsg.): Welternährung zwischen bäuerlicher Hauswirtschaft und Exportlandwirtschaft. Zur Bedeutung der Eigenarbeit für die Ernährungssicherheit. gender...politik...online, FU-Berlin Oktober 2006. pdf-Version S. 4.
  17. André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Neuauflage. Rotbuch, Zürich 2009, ISBN 978-3-85869-429-4, S. 37 ff. (Original: 1989).
  18. Franziska Müller: Zwischen Markt, Multifunktionalität und Marginalisierung. Die Zukunft der Semi-Subsistenz in Osteuropa. In: Peter H. Feindt, M. Gottschick u. a.: Nachhaltige Agrarpolitik als reflexive Politik. Plädoyer für einen neuen Diskurs zwischen Politik und Wissenschaft. Sigma, Berlin 2008, S. 213–229, hier S. ??.
  19. Europäisches Netzwerk für ländliche Entwicklung: Semisubsistenzlandwirtschaft in Europa: Konzepte und Kernfragen. (PDF-Datei; 3,3 MB; 110 Seiten auf ec.europa.eu; Hintergrundpapier für das Seminar Semisubsistenzlandwirtschaft in der EU: aktuelle Situation und Zukunftsaussichten in Sibiu, Rumänien, 13.–15. Oktober 2010).
  20. Anja von Hahn: Traditionelles Wissen indigener und lokaler Gemeinschaften zwischen geistigen Eigentumsrechten und der public domain. Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Springer, Heidelberg u. a. 2004, ISBN 3-540-22319-3, S. 47–56, hier S. 48.
  21. Niko Paech: Die Legende vom nachhaltigen Wachstum – Ein Plädoyer für den Verzicht. In: Le Monde diplomatique. 10. September 2010, abgerufen am 13. September 2014. 
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