Henryk Grossmann

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Henryk Grossmann (* 14. April 1881 in Krakau; † 24. November 1950 in Leipzig) war ein polnischer Ökonom, Statistiker und Historiker jüdischer Herkunft. (In deutschsprachigen Publikationen verwendete er die Schreibweise "Grossmann", in seinen polnischen, jiddischen und englischen Veröffentlichungen schrieb er sich "Grossman".)

Als Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in dessen Frühphase gelangte er durch sein am Vorabend der Weltwirtschaftskrise von 1929 erschienenes Hauptwerk Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. (Zugleich eine Krisentheorie) zu einem größeren Bekanntheitsgrad. Innerhalb des Marxismus gilt er als ein Vertreter der Zusammenbruchstheorie.

Leben

Grossmann wurde als Sohn einer relativ wohlhabenden jüdischen Industriellenfamilie in Galizien geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Er studierte Rechtswissenschaften an der Jagiellonen-Universität in Krakau und promovierte dort 1908 zum Dr. jur. Während des Studiums trat er in verschiedenen sozialistischen Organisationen und bald als oppositionelles Mitglied innerhalb der Polnischen Sozialdemokratischen Partei Galiziens und Teschener Schlesiens (PPSD: Polska Partia Socjalno-Demokratyczna Galicji i Ślaska Cieszyńskiego) hervor. Er betätigte sich in der radikalen Studentenorganisation „Ruch" (Die Bewegung) und wurde 1905 Redakteur der Zeitschrift "Zjednoczenie" (Vereinigung). Ebenfalls 1905 war er Mitbegründer und erster Exekutivsekretär der Jüdischen Sozialdemokratischen Partei in Galizien (ŻPSD: Żydowska Partia Socjal-Demokratyczna).

1908 begab er sich nach Wien, um dort die vorgeschriebene 7-jährige Kandidaturszeit zum Rechtsanwalt anzutreten und seine akademische Karriere durch den Besuch von Vorlesungen u.a. bei Eugen von Böhm-Bawerk und Carl Grünberg fortzusetzen. Im ersten Weltkrieg wurde Grossmann Offizier und diente ab 1917 in einer wirtschaftswissenschaftlichen Forschungseinrichtung. Diese Erfahrung konnte er nutzen, als er 1919 in Warschau am polnischen Statistischen Institut arbeitete und die erste polnische Volkszählung durchführte. 1921 verließ er das Institut und ging an die Freie Universität Polens, um Wirtschaftspolitik zu lehren. 1919 trat er der Kommunistischen Arbeiterpartei Polens bei. 1922 bis 1925 war er Vorsitzender der kommunistischen Volksuniversität. Aufgrund politischer Verfolgung unter dem Pilsudskiregime emigrierte er 1925 aus Polen und ging nach Deutschland. Er wurde Mitglied des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main. 1929 wurde er "außerordentlicher Professor" an der Universität Frankfurt. 1933 musste Grossmann nach Paris fliehen, 1936 wandert er weiter nach London. 1937 bis 1949 lebter er in New York, dann zog er nach Leipzig, wo er eine Professorenstelle annahm.

Vor Hitlers Machtergreifung war Grossmann gegenüber Stalin zunehmend kritisch eingestellt, doch Ende der 30er Jahre hat er sich dem Stalinismus wieder angenähert, wohl weil er glaubte, die Sowjetunion sei die einzige Macht gewesen, welche die spanische Republik unterstützt hätte. Im Gegensatz zu den stalinistischen Kommunisten bemerkte Grossmann keine Spannungen zwischen seinem Werk und der offiziellen kommunistischen Politik. 1950, in seinem Todesjahr, vermachte er eine Reihe seiner Essays dem offiziellen Verlag der DDR, der Berliner Dietz-Verlag, der jedoch nie irgend etwas von Grossmann veröffentlichte.

Theorie

Der Anlass für Grossmanns Untersuchung war ein Zahlenschema des Sozialdemokraten Otto Bauer. Bauer wollte zeigen, dass bei Vollbeschäftigung zwar die Profitrate sinkt, wie von Karl Marx behauptet, dass aber dies zu keinem Zusammenbruch des Kapitalismus führen muss, weil alle Größen absolut ständig zunehmen, wenn auch vielleicht mit abnehmender Wachstumsrate. Also die Arbeiter und Arbeiterinnen bekommen immer mehr, die Kapitalisten können immer mehr konsumieren, es kann immer mehr investiert werden. Zwar nimmt die Profitrate ab, aber die Profitmasse nimmt ständig zu. Bauer zieht daraus den Schluss, dass der Kapitalismus moralisch bekämpft werden muss. Nur wenn die Menschen den Kapitalismus nicht mehr haben wollen, ist ihm beizukommen. Es gibt keine ökonomischen Zwänge, die den Kapitalismus in einen „Zusammenbruch" treiben könnten.

Grossmann war diese Moral zu wenig. Der tiefere Grund, weshalb die Arbeiter und Arbeiterinnen den Kapitalismus ablehnen ist, dass der Kapitalismus dazu treibt, zusammenzubrechen und in Krisen zu geraten. Es besteht also eine materielle Notwendigkeit für die Arbeiter, den Kapitalismus zu überwinden, keine rein ideelle.

Das ganze ist auch ein Beispiel für den Fortschritt in der Wissenschaft. Heutzutage hätte Bauer sein Schema in einem Tabellenprogramm erstellt. Er hätte einfach mit der Maus die Tabelle weiter nach unten verlängern können und wäre dann darauf gestoßen, dass unter seinen Zahlenannahmen sich später doch ein „Zusammenbruch" abzeichnet. Grossmann hatte zwar auch kein Tabellenprogramm und keine Maus, er hat aber länger gerechnet als Bauer und stellte fest, dass in einem späteren Jahr ein Zusammenbruch im Bauerschen Schema sich abzeichnet. Bauer hatte einfach nicht lange genug gerechnet.

Wie funktioniert der „Zusammenbruch" bei Grossmann?

Grossmann geht von einer Produktion für folgende Nachfrage aus:

  • Konsum der Arbeiter
  • Investitionen der Kapitalisten
  • Konsum der Kapitalisten.

Grossmann übernimmt von Marx die Tendenz, dass die Wertzusammensetzung des Kapitals steigt. Die Produktion für die

  • Investitionen der Kapitalisten

wächst also rascher als die Produktion für den

  • Konsum der Arbeiter.

Auf diese Weise können die Kapitalisten eine größere Produktionssteigerung erreichen als wenn sie die Nachfrage nach Arbeitskräften und Investitionen im Gleichschritt ausdehnten.

Darüber hinaus nimmt Grossmann an, dass – wegen der Konkurrenz und weil so die Produktion stärker gesteigert werden kann - von der Gesamtproduktion ein immer größerer Teil Investitionen der Kapitalisten darstellt. Dies geht zu Lasten des Anteils des Konsums der Kapitalisten. Die Nachfrage nach Investitionsgütern wächst also rascher als die Produktion insgesamt, was geht, solange die Nachfrage nach Konsumgütern für die Kapitalisten zum Ausgleich schwächer wächst.

Der Zusammenbruch droht, wenn schließlich die gesamte Produktion einmal für den Konsum der Arbeiter und zum anderen für die Investitionen der Kapitalisten verwendet wird. Die Investitionen können dann nicht mehr rascher als die Produktion insgesamt ausgeweitet werden. Es beginnt ein Verdrängungskampf unter den Kapitalisten und ein Kampf gegen die Arbeiter um die Aufteilung des Produkts. Einzelne Kapitalisten können weiter rasch ihre Investitionen ausweiten, indem andere aus dem Investitionsmarkt gedrängt werden. Diese können dann nicht mehr die im Konkurrenzkampf erforderlichen Investitionen im erforderlichen Umfang tätigen, sie fallen technologisch zurück, werden aus dem Markt gedrängt.

Zum anderen kann versucht werden, die Löhne zu senken. Der so für die Kapitalisten größer werdende Mehrwert kann dazu genutzt werden, weiterhin die Investitionen im erforderlichen Maße auszuweiten. Die Löhne können allerdings nicht beliebig gesenkt werden. Werden die Lohnausgaben gesenkt, indem weniger Arbeitskräfte eingestellt werden, entsteht Arbeitslosigkeit. Außerdem fehlen dann Arbeitskräfte zur Bedienung des Kapitalstocks (=angesammelte Investitionen). Auf der einen Seite sind Arbeiter arbeitslos, auf der anderen Seite liegt Kapital brach. Dieses Paradox schildert Marx im fünfzehnten Kapitel von Band III des Kapitals.

Grossmann fährt dann fort, dass dieser Verdrängungskampf die nationalen Grenzen überschreitet, so dass es zu imperialistischen Tendenzen mit Krieg kommt. Das brachliegende Kapital erscheint auch in der Form von brachliegendem Finanzkapital, das vor einem „Anlagenotstand", wie heutzutage gelegentlich gesagt wird, steht. Angesichts des „Zusammenbruchs" gibt es keine rentablen Investitionsmöglichkeiten mehr. Die Folge ist „asset inflation" (Vermögenswerteinflation, ebenfalls ein neuerer Begriff), d.h. der Preis für Aktien, Immobilien, Grundstücke usw. geht paradoxerweise immer weiter nach oben, obwohl die Wirtschaft stagniert. Wenn allgemein die Rentabilität sinkt, sind die wenigen noch vorhandenen Profitquellen immer mehr Wert, daher die Blasen auf den Finanzmärkten.

Das Buch von Grossmann erschien im Jahre 1929, kurz vor der Weltwirtschaftskrise. Trotz dieser auf den ersten Blick eindrucksvollen Bestätigung stieß es von Anfang an auf Kritik von marxistischer wie nichtmarxistischer Seite.

Werke

  • Proletariat wobec kwestii żydowskiej. Z powodu niedyskutowanej dyskusji w „Krytyce. [Das Proletariat angesichts der jüdischen Frage. Aus Anlaß der nicht geführten Diskussion in der „Kritik".] Kraków 1905. [Poln.]
  • Der bundizm in Galitsien. Kraków 1907. [Jidd.]
  • Österreichs Handelspolitik mit Bezug auf Galizien in der Reformperiode 1772-1790. Wien 1914. (Studien zur Sozial-, Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte. Hrsg. von Karl Grünberg. X. Heft.)
  • Teorja kryzysów gospodarczych. (The Theory of Economic Crises). – Meeting of June 16, 1919. In: Bulletin International de l’Académie Polonaise des Sciences et des Lettres. Classe de Philologie. Classe d’Histoire et de Philosophie. II. Partie. Les Années 1919, 1920. Cracovie: Impr. de l’Univ., 1925. S. 285-290. [Engl.]
  • Simonde de Sismondi et ses théories économiques. (Une nouvelle interprétation de sa pensée). Varsaviae 1924. (Bibliotheca Universitatis Liberae Polonae. A. 1924. Fasc. 11.)
  • Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. (Zugleich eine Krisentheorie). Leipzig 1929 (Schriften des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a.M. Bd. I. Hrsg. von Carl Grünberg.) [Nachdruck: Frankfurt a.M. 1967 und 1970.]
  • Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Philosophie und die Manufaktur. In: Zeitschrift für Sozialforschung. Jg. IV. H. 2. Paris 1935. S. 161-231.
  • W. Playfair, The Earliest Theorist of Capitalist Development. In: The Economic History Review. Published for the Economic History Society. Vol. XVIII. No. 1/2. London 1948. S. 65-83.
  • Marx, die klassische Nationalökonomie und das Problem der Dynamik. Mit einem Nachwort von Paul Mattick. Frankfurt a.M., Wien 1969. [Urspr.: Hektographiertes Typoskript. New York: Institut für Sozialforschung, 1941.]
  • Aufsätze zur Krisentheorie. Frankfurt a.M. 1971. [Nachdruck von Aufsätzen aus den Jahren 1928, 1929, 1932, und 1943.]
  • [zusammen mit Carl Grünberg:] Anarchismus, Bolschewismus, Sozialismus. Aufsätze aus dem „Wörterbuch der Volkswirtschaft". Hrsg. von Claudio Pozzoli. Frankfurt a.M. 1971. [Nachdruck von Wörterbuchaufsätzen aus den Jahren 1931-1933.]

Literatur

  • Scheele, Jürgen: Zwischen Zusammenbruchsprognose und Positivismusverdikt. Studien zur politischen und intellektuellen Biographie Henryk Grossmanns (1881-1950). Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Wien: Peter Lang, 1999. (ISBN: 3-631-35153-4).
  • Kuhn, Rick: Henryk Grossman, a Marxist Activist and Theorist: on the 50th Anniversary of his Death. In: Research in Political Economy. Vol. 18: Value, Capitalist Dynamics, and Money. Edited by P. Zarembka. New York: Elsevier Science, 2000. S. 111-170. (ISBN: 0-7623-0696-3).
Personendaten
NAME Grossmann, Henryk
ALTERNATIVNAMEN Grossman, Henryk
KURZBESCHREIBUNG deutscher-polnischer Ökonom, Statistiekr und Historiker jüdischer Herkunft
GEBURTSDATUM 14. April 1881
GEBURTSORT Krakau
STERBEDATUM 24. November 1950
STERBEORT Leipzig
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