Der Selbstmörder-Klub

Von Michael Mielke
Veröffentlicht am 27.11.1999Lesedauer: 6 Minuten

1927 sorgte die "Steglitzer Schülertragödie" für Schlagzeilen

Der herbeigerufene Hausarzt konnte nicht mehr helfen. Hans Stephan, ein 19-jähriger Kochlehrling, klemmte tot hinter einem Schlafzimmerschrank. Der gleichaltrige Primaner Günther Scheller lag röchelnd auf dem Boden; auch er tödlich getroffen von einer Revolverkugel. Und noch eine Person befand sich im Raum: Paul Krantz, 18 Jahre alt. Er wollte zwar alles gesehen, selber aber nicht geschossen haben.

Obwohl die polizeilichen Ermittlungen nach dem Eintreffen des Hausarztes sofort begannen, konnte nie zwingend geklärt werden, was am 28. Juni 1927 im Haus Nummer 72c der gutbürgerlichen Albrechtsstraße in Berlin-Steglitz geschehen war. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb wurde die von Polizeireportern als "Steglitzer Schülertragödie" apostrophierte Geschichte schnell über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Es gab ein höllisches Medienspektakel mit einer Flut von Vorverurteilungen und am Ende einen so genannten "Sensationsprozess", der mit spektakulären Gerichtsverfahren heutiger Zeit wie jenen gegen den "Kaufhauserpresser Dagobert", Monika Weimar/Böttcher oder den Hochstapler Gerd Postel alias Dr. Dr. Bartoldy durchaus vergleichbar ist.

Doch bei der "Steglitzer Schülertragödie" kam noch ein anderes Moment hinzu: Die Frage, warum sich blutjunge, sozial gesicherte Heranwachsende umbringen. Ganz unvermittelt. Aus scheinbar nichtigem Anlass. Überschwemmt - vielleicht - von einer Flut von Gefühlen. Überwältigt - vielleicht - von einer merkwürdigen Todessehnsucht.

Dabei beginnt der 28. Juni 1927 für die fünf jungen Leute, die sich in der Steglitzer Wohnung der Familie Scheller aufhielten, eher harmonisch. Sie haben "sturmfreie Bude". Vater und Mutter Scheller sind auf Geschäftsreise in Dänemark. Eine Nacht zuvor schlief die 16-jährige Hilde Scheller mit dem 18-jährigen Paul Krantz. Der uneheliche Sohn einer Putzfrau gehört nicht in dieses Milieu, ist nur dank seiner vor allem literarischen Begabung als Freischüler in die höhere Lehranstalt gelangt. Und so ist die laszive Tochter reicher Eltern, der er stürmische Gedichte schreibt, für ihn dann auch besonders reizvoll. Doch sie wendet sich schon eine Nacht später einem anderen zu: dem später erschossenen Hans Stephan. Auf diesen wiederum ist auch Hildes Bruder Günther nicht gut zu sprechen. Der ehemalige Busenfreund soll ihn verpetzt haben.

Eifersucht und Rache allein können jedoch kaum die Gründe dafür sein, dass Paul und Günther, übernächtigt, Alkohol trinkend, eine Zigarette nach der anderen paffend, am Küchentisch sitzen und Mordpläne zu schmieden beginnen. Ein Revolver liegt bereit. Sie planen die Tat minutiös, formulieren Abschiedsbriefe. "Ich erschieße erst Hilde, dann Günther, während Günther Hans Stephan erschießen wird", lautet Krantzens Legat, geschrieben für einen Schulkameraden. "Lache nicht. Dies ist die letzte Konsequenz eines, der vom Leben getötet ist."

Es gibt aus dieser Zeit ein im Gerichtssaal heimlich geschossenes Foto: Paul Krantz, "umgeben", wie es der Autor Arno Meyer zu Küingdorf beschreibt, "mit schweren wichtigen Männern". Küingdorf hatte das Foto und die Meldung über den "Sensationsprozess" in der Staatsbibliothek beim Schmökern in einem alten "Jahrbuch" entdeckt - und war davon nicht mehr losgekommen. Er wälzte Hunderte von Prozessakten, las alte Zeitungen, studierte rechtstheoretische Schriften, in denen bis in die Gegenwart hinein Abhandlungen über den Prozess um die "Steglitzer Schülertragödie" zu finden sind. Ihn habe fasziniert, erinnert er sich, wie aktuell die Probleme dieser mehr als 70 Jahre zurückliegenden Geschichte gewesen seien: "Die Orientierungslosigkeit der jungen Leute, die scheinbare Ohnmacht von Lehrern und Eltern, auch die Gewaltbereitschaft, die ja so oft als eine typische Erscheinung der heutigen Zeit beschworen wird."

Produkt dieses Interesses ist das Buch "Der Selbstmörder-Klub" (Reclam Leipzig, 16,90 Mark). Ein Text, bei dem Küingdorf fiktive Elemente (die sich an authentischen Überlieferungen orientierten) und Auszüge aus Polizeiprotokollen, Briefen und Tagebüchern geschickt miteinander verknüpfte. Darunter Gedichte des Jungliteraten Krantz. Auch hier ist schon eine Affinität des Pennälers zum Tode zu erkennen:

". . . auf dem Boden liegt die Leiche meines Freundes Robert Krause, Aus der Wunde sickert langsam rotes Blut zur grauen Erde.

Neben ihm sitzt starren Blickes der, der ihn gemordet hat

Es verglimmt die Zigarette, zitternd in der Mörderhand . . ."

Magnus Hirschfeld, der damals den Angeklagten Paul Krantz begutachtete, sprach vor dem Schwurgericht von der "Reizbarkeit des Nervensystems während der Pubertät"; von "geistiger Frühreife und körperlicher Unreife", einem Zusammenspiel, das sich "verhängnisvoll ausgewirkt" habe. Paul Krantz' Verteidiger, der in den zwanziger Jahren renommierte und hoch dotierte Rechtsanwalt Erich Frey, bemühte bei seinen Erklärungsversuchen Goethe: Jugend sei nun einmal "Trunkenheit ohne Wein". Und der legendäre Gerichtsreporter Paul Schlesinger, bekannter unter dem Pseudonym Sling, kaschierte in der "Vossischen Zeitung" seinen Erklärungsnotstand mit metapsychisch anmutenden Beschreibungen wie der, Krantz habe "niemals einen ernsthaften bewussten Vorsatz zu der Tat gefasst"; er habe fliehen wollen "ins Leichtere, in diesem Fall ins Nichts, das ja auch eine magische Gewalt ausüben" könne.

Andere suchten Ursachen in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Es gehöre "zu den bittersten Nachwirkungen des Krieges, dass die Scharfschießerei als eine sehr mannhafte und ritterliche Manier angesehen, fremdes Leben aber wenig geachtet wird", kommentierte der "Berliner Stadtanzeiger" die "Steglitzer Schülertragödie". In der "Berliner Morgenpost" sprach der Autor des Leitartikels von einem "grellen Schlaglicht auf die geistige und moralische Verfassung eines Teils der heranwachsenden Jugend". Vielleicht würde "der Prozess ja ergeben, was Elternhaus und Schule in diesem Fall gesündigt haben, oder ob es allgemein traurige Erscheinungen eines Zeitalters sind, für die Schuldige zu suchen vergebens wäre".

Natürlich waren die Erwartungen an das Strafverfahren - auch diese trügerischen Hoffnungen sind durchaus noch aktuell - zu groß. Es gab viele Fragen, kaum schlüssige Antworten und am Ende einen von Experten wie Sling früh prognostizierten Freispruch.

Hernach war Paul Krantz das, was man heute einen Medienstar nennt. Er sollte in einem Theaterstück die eigene Rolle übernehmen. Es gab Pläne für einen Film. Seine Gedichte wurden veröffentlicht. Verlage boten an, seine Memoiren zu drucken. Der Pennäler zog es jedoch vor unterzutauchen. Mit aller Konsequenz: Er nannte sich jetzt Ernst Erich Noth, besuchte in Frankfurt am Main die Odenwaldschule und studierte anschließend an der Frankfurter Universität Germanistik, Soziologie und Pädagogik. Während dieser Zeit schloss er sich linken Gruppierungen an. Sein 1931 erschienener erster Roman "Die Mietskaserne" landete 1933 bei der Bücherverbrennung auf dem Scheiterhaufen. Im selben Jahr emigrierte Noth nach Frankreich, setzte 1941 seine Flucht fort und landete schließlich in den USA, wo er den deutschsprachigen Dienst der NBC leitete, wie schon in Frankreich Essays und Romane veröffentlichte und von 1949 bis 1963 als Literatur-Professor an den Universitäten Oklahoma und Milwaukee lehrte.

Erst Ende 1970 kehrte Noth nach Deutschland zurück. Und wieder zog es ihn nach Frankfurt am Main, wo er seine 37 Jahre zuvor begonnene Promotion zum Dr. phil. beendete und hernach Vorlesungen zum Thema Exilliteratur und Neue Sachlichkeit hielt. Aber nur als Honorarprofessor, mit halbjährlich verlängerten Verträgen und einem Abschied, wie das "Börsenblatt" 1984 in einer Serie über Exilautoren kritisch vermerkte, "als entließe man einen Unfähigen".

"Wenn man einmal aus der Bahn geworfen ist", soll Noth resümiert haben, "dann folgt man einem anderen Umlaufkreis." Es ist nicht geklärt, wo er den Beginn dieses "Umlaufkreises" sah und ob er damit vielleicht auch schon jene bittere Zeit im Jahre 1927 meinte. Eines jedoch ist sicher: Ernst Erich Noth wurde nie eine derart große Aufmerksamkeit zuteil, wie sie dem wegen Mordes angeklagten Pennäler Paul Krantz aufgedrängt worden war. Im Gegenteil. Als der zumindest in Expertenkreisen keineswegs unbekannte Literat am 15. Januar 1983 starb, war das den meisten Feuilletons nicht einmal eine Meldung wert.


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