Wer soll wählen?

Von Konrad Adam
Veröffentlicht am 16.10.2006Lesedauer: 3 Minuten

Kolumne Die Macht der Schwachen / Von Konrad Adam

Neulich hat ein Gastautor auf diesen Seiten den Vorschlag gemacht, den von ihm sogenannten Nettostaatsprofiteuren das Wahlrecht zu entziehen. In diese Kategorie gehören nach seiner Definition nicht nur die Beamten, die im Staat ihren Arbeitgeber sehen, und nicht nur alle diejenigen, die weniger für die Politik als von der Politik leben, die Mehrzahl der Berufspolitiker also, sondern auch und vor allem die Masse der Arbeitslosen und der Rentner. Alle diese Gruppen beziehen ihr Einkommen ganz oder überwiegend aus öffentlichen Kassen und haben schon deshalb ein höchst persönliches Interesse daran, den Staat, der sie ernährt, so fett (und nicht so schlank) wie möglich dastehen zu lassen.

Anlass für diesen Vorschlag waren die jüngsten Wahlergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin. In welchem Umfang sie von solchen Abhängigkeitsverhältnissen beeinflusst worden sind, ist schwer zu sagen. Unstrittig aber dürfte sein, dass sich die Politik verändern wird, wenn die Mehrheit im Lande zugunsten der Zuwendungsempfänger kippt. Dann muss die Politik, bei Strafe des Machtverlustes, die von ihr Abhängigen bei Laune halten. Wie die Wahlversprechen der Parteien, der rechten genauso wie der linken, in den Wahlkämpfen gezeigt haben, tut sie das auch.

Vor diesem Hintergrund klingt die Anregung, den Inaktiven und Versorgungsempfängern das Wahlrecht abzuerkennen, provokativer, als sie tatsächlich ist. Die Fähigkeit, sich selbst und den Seinen den Lebensunterhalt zu verdienen, galt in der Theorie der europäischen Verfassungsbewegung als eine selbstverständliche Voraussetzung für die Gewährung des Wahlrechts. Nicht "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" hieß die Parole in den Verfassungstexten, die während der französischen Revolution in kurzem Abstand aufeinanderfolgten, sondern "Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Sicherheit". Der Grund ist klar: Nur der Besitz schien eine Garantie dafür zu bieten, dass man vom Wahlrecht verantwortlich Gebrauch machte.

Erst später, mit dem Aufkommen der industriellen Revolution und seiner hässlichsten Folge, der Massenarbeitslosigkeit, ist die Fähigkeit, aus eigenem Vermögen für sich und die Seinen zu sorgen, als Voraussetzung für das Wahlrecht entfallen. Ob das ein Fortschritt war, kann man mit Blick auf die Schwierigkeiten, die der deutschen Politik aus ihrer Unfähigkeit erwachsen sind, sich aus der Fixierung auf unproduktive Haushaltstitel wie Rente, Pflege, Schuldendienst und Arbeitslosigkeit zu befreien, mit einigem Recht bezweifeln. Das Übergewicht der Passiven lähmt auf die Dauer auch die Aktiven und zerstört den Willen zur Zukunft, indem es die Kräfte des Landes zur Finanzierung von Vergangenheiten einspannt und verbraucht.

Fragt nicht, was Amerika für euch tun kann, sondern was ihr für Amerika tun könnt, hatte John F. Kennedy seinen Landesleute zugerufen und damit einen Satz gesagt, der wie sonst nichts im Gedächtnis der Amerikaner seine Spuren hinterlassen hat - im Gegensatz zu Deutschland, wo man schon vor Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze unter der bezeichnenden Adresse www.reichimschlaf.de nachlesen konnte, was man tun muss, um auch ohne den Willen zur Arbeit auf öffentliche Kosten ein auskömmliches Leben zu führen.

Wo sich eine solche Mentalität durchsetzt, ist es mit Staat und Staatlichkeit nicht mehr weit her. Dann muss die Vorstellung vom gemeinen Wohl, ohne das eine Gesellschaft nicht auskommt, verkümmern und verfallen. Der Anspruch, hier und heute gut zu leben, untergräbt den Willen zur Zukunft und zwingt die Politik, dem aktiven, aber schrumpfenden Teil der Bevölkerung zugunsten eines beständig wachsenden, aber unproduktiven Teils immer größere Opfer abzuverlangen. Auf diesem Weg ist Deutschland ziemlich weit vorangekommen.


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