Was macht eigentlich ... ... Riccardo Ehrman?
Herr Ehrman, im 20. Jahr der deutschen Einheit - glauben Sie, Sie haben den Lauf der Weltgeschichte verändert?
Ich habe ihn nicht verändert. Der Fall der Mauer hat es ganz sicher.
Ohne Sie wäre die Mauer aber wohl nicht am 9. November gefallen.
Vielleicht, ja. Man kann sagen: Ich habe der Weltgeschichte das Stichwort gegeben. Willy Brandt hat mich später mal umarmt und gesagt: "Kurze Frage, enorme Wirkung."
Wie lief das damals genau ab?
Das Zentralkomitee der SED hatte für 18 Uhr eine Pressekonferenz angesetzt. Ich fand keinen Parkplatz, kam zu spät, alle Stühle waren besetzt. Ich setzte mich also direkt zu Füßen von Schabowski auf das Podium. Ich habe mich eine Stunde lang gemeldet, und er hat mich ignoriert. Die Pressekonferenz war fast zu Ende, dann sagte er: "Jetzt geben wir das Wort an unseren italienischen Freund."
Und Sie waren sauer.
Ein bisschen. Ich habe ihn dann vielleicht etwas zu aggressiv nach der Reisefreiheit gefragt. Dass ihn jemand öffentlich angriff, das war er nicht gewöhnt. Das hat ihn nervös gemacht.
Zur Person
Riccardo Ehrman wurde 1929 als Sohn polnischer Eltern jüdischen Glaubens in Florenz geboren. 1943 wurde er mit seinen Eltern in einem italienischen Konzentrationslager interniert. Nach dem Krieg studierte Ehrman zunächst Rechtswissenschaften, arbeitete parallel als Reporter in Florenz und später als AP-Korrespondent in Rom. Zur Zeit der Wende war er als Korrespondent für die italienische Nachrichtenagentur Ansa in Ost-Berlin tätig. Inzwischen ist er pensioniert und lebt mit seiner Frau in Madrid.
Er antwortete sieben Minuten lang und sagte 31-mal "äh" ...
Ja. Und dann nahm er einen Zettel zu Hilfe und las einen Beschluss des Ministerrats vor: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen ... beantragt werden." Und ich fragte: "Ab wann?" Und er sagte: "Sofort."
War allen in dem Moment klar, was das heißt?
Ich war wohl der Einzige, der es sofort verstanden hat. Die Kollegen haben die Sensation in all dem Kommunistendeutsch gar nicht mitbekommen. Außer mir ist nur ein westdeutscher Diplomat aus dem Saal gelaufen, um den Bundeskanzler zu informieren. Als ich in der Zentrale in Rom anrief, hat mich mein Chefredakteur gefragt, ob ich verrückt geworden sei. Ich musste noch ein paar Mal anrufen, bis wir es dann endlich als Erste gemeldet haben: "La caduta del Muro di Berlino" - "Der Fall der Berliner Mauer".
Der bewegendste Augenblick?
Ich wusste nicht, dass die Pressekonferenz live im Fernsehen übertragen worden war. Innerhalb kürzester Zeit sammelten sich Tausende an den Grenzübergängen. Am Bahnhof Friedrichstraße hat mich jemand erkannt und gerufen: "Das ist der Mann, der eben die Frage gestellt hat." Und sie haben mich auf ihre Schultern gehoben.
Haben Sie Günter Schabowski später noch mal getroffen?
Ja, hier in Madrid. Er war sehr freundlich. Eigentlich sollte ich ihn in einigen Wochen in Italien wiedersehen. Die Deutsche Akademie in Perugia hatte etwas organisiert. Leider mussten wir das verschieben.
Wieso leben Sie heute in Spanien?
Meine Frau ist Spanierin. Ab und zu arbeite ich noch für meine alte Agentur Ansa. Und bei "L'Europeo". Ein Journalist hat den besten Beruf der Welt!
Denken Sie manchmal daran, was gekommen wäre, wenn Sie nicht gefragt hätten?
Nein. Aber eines ist sicher: Die DDR-Führung wollte Zeit gewinnen. Das ging nach meiner Frage nicht mehr. Sicher wären Polizei- und Grenztruppen am nächsten Morgen besser vorbereitet gewesen. Ob dann alles friedlich geblieben wäre?
Man hat Ihnen darum kürzlich das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Ja. Ich habe mich sehr darüber gefreut, und es hat mich sehr stolz gemacht. Diese Pressekonferenz am 9. November war einer der besten Momente meines Lebens. Und ich darf sagen: Ich habe nur meine Arbeit getan.