Open Science: Mehr Transparenz und Fairness in der Wissenschaft

Karlsruhe, 22.08.2024 — Welche Bedeutung haben offene Standards in der Wissenschaft, und wie kann eine Open-Access-Policy die Wissenschaftslandschaft fairer und besser machen? Über diese Fragen haben wir mit unserem Kollegen Dr. Fabian Müller gesprochen, der bei FIZ Karlsruhe als Teamleiter für die Entwicklung und die Systeme am Standort Berlin zuständig ist. Ursprünglich selbst Mathematiker, trägt er seit gut zehn Jahren dazu bei, mathematische Informationen für Forschende und Interessierte besser zugänglich zu machen.
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Kontakt

Dr. Franziska Kretschmer

Referentin für Wissenschaftskommunikation
franziska.kretschmer [at] fiz-karlsruhe.de

Frage: Wofür steht das „Open" in „zbMATH Open", und welche Bedeutung hat es im Kontext Eurer Arbeit?

Bis Ende 2020 war zbMATH ein kostenpflichtiger Service, der üblicherweise von Hochschulen abonniert und so den Forschenden zur Verfügung gestellt wurde. Seit Anfang 2021 wurde die Finanzierung des Dienstes durch den Bund und das Land Baden-Württemberg übernommen, sodass wir ihn seitdem ohne Kosten für die Nutzenden zur Verfügung stellen können. Das bringt gleich mehrere Vorteile mit sich – von dem offensichtlichen Nutzen für die Community abgesehen, setzt es bei uns, da die Kundenverwaltung wegfällt, Ressourcen frei, die wir in die Entwicklung neuer Features stecken können. Außerdem ermöglicht es Kooperationen mit verschiedensten Diensten, die ihre Daten nur für die nicht-kommerzielle Verwendung zur Verfügung stellen. Die Vernetzung mit solchen Partnern ist seitdem ein wichtiger Fokus unserer Arbeit.

Frage: Wie tragen Open Access und offene Standards zur Förderung von Fairness, Transparenz und Nachhaltigkeit in der Wissenschaft bei? Kannst du Beispiele nennen, wie diese Prinzipien in Eurer täglichen Arbeit bei zbMATH Open umgesetzt werden?

Zunächst einmal wird die Entwicklung und Produktion von zbMATH Open ja aus öffentlichen Geldern bezahlt, so dass es nur folgerichtig ist, wenn die Ergebnisse dann auch der Allgemeinheit zugutekommen – ein Grundsatz, der eigentlich auch für wissenschaftliches Publizieren selbstverständlich sein sollte. Wirtschaftlich schwächeren Ländern verhilft der offene Zugang zu besseren und faireren Teilhabemöglichkeiten. Neben zbMATH Open gibt es noch den kostenpflichtigen, von der American Mathematical Society produzierten Referatedienst MathSciNet, und während viele Hochschulen früher aus Kostengründen nur einen der beiden Service abonniert hatten, können sie nun beide Dienste beziehen. Schließlich werden alle neuen bei zbMATH Open produzierten Daten und Verknüpfungen unter einer Creative-Commons-Lizenz zur Verfügung gestellt. Lediglich die Daten, die wir etwa von Verlagen selbst nur unter einer restriktiven Lizenz zur Verfügung gestellt bekommen, können wir natürlich auch nur eingeschränkt anbieten. Wir arbeiten aber daran, dass sich das ändert.

Wirtschaftlich schwächeren Ländern verhilft der offene Zugang zu besseren und faireren Teilhabemöglichkeiten.

Frage: Wann haben dir in deiner wissenschaftlichen Tätigkeit offene Standards und Open-Access-Zugänge ganz konkret bei der Lösung eines Problems geholfen?

Meine eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit als Mathematiker liegt ja schon eine Dekade hinter mir. Ich hatte damals das Glück, dass ich mit der Algebraischen Geometrie in einem Forschungsgebiet tätig war, indem es völlig normal war und quasi zum guten Ton gehörte, neue Forschungsergebnisse gleich bei Einreichung auch in den Preprint-Service arXiv hochzuladen. Auf diese Art war ich praktisch immer in der Lage, an alle für meine Arbeit wichtigen Forschungsergebnisse ohne jegliche Mühe heranzukommen. Das ist leider bei Weitem nicht in allen Bereichen der Mathematik so, und erst recht nicht in vielen anderen Wissenschaftszweigen, wo oft auch deutlich größere finanzielle Interessen mit der wissenschaftlichen Leistung verquickt sind. Wenn ich heute noch forschen würde, wäre es für mich vermutlich äußerst hilfreich, mit neueren semantischen Methoden direkt nach mathematischen Konzepten suchen zu können statt den Umweg über eine textuelle Repräsentation gehen zu müssen. Das ist aber leider momentan immer noch Zukunftsmusik, obwohl sich in dieser Richtung schon wirklich viel getan hat.

Frage: Welche Rolle spielen deiner Einschätzung nach offene Standards bei der Qualitätssicherung in der Forschung, aber zum Beispiel auch in der Wirtschaft? Lässt sich dadurch einfacher objektive und überprüfbare Qualitätssicherung vornehmen?

Die Liste ist lang: Durch geschickte Analyse der Profile von Autor*innen in zbMATH Open lassen sich künstlich aufgeblähte Zitationszahlen identifizieren. Offen verfügbare Papers oder die Verknüpfung mit den zugehörigen Preprints erlauben automatisierte Identifizierung von Plagiarismus-Verdachtsfällen. Der Vergleich mit Einträgen in MathSciNet bringt mehr Objektivität durch das Mehr-Augen-Prinzip – andere Wissenschaften haben kein vergleichbares, institutionell verankertes System wie die Mathematik, wo schon des Öfteren wissenschaftliche Fehler und wissenschaftliches Fehlverhalten nach erfolgtem Peer Review erst durch die Referatedienste nachgewiesen wurden. In deren redaktionellen Prozessen werden so Verlage regelmäßig hinsichtlich Mängel in der Qualitätssicherung evaluiert. Doch auch dafür braucht es Verknüpfungen. Das geht am verlässlichsten durch offene Standards, zum Beispiel bei der Bereitstellung bibliographischer Metadaten. Solange diese noch nicht überall verwendet werden, müssen wir uns mit Methoden der Künstlichen Intelligenz behelfen – und die sind zwar gut, aber noch lange nicht perfekt.

Methoden der Künstlichen Intelligenz sind gut, aber noch lange nicht perfekt.

Frage: Welche Vorteile haben offene Standards für Nutzer:innen außerhalb der Wissenschaftscommunity, zum Beispiel ganz konkret für mich im Bereich Wissenschaftsunterstützung?

Viele fachspezifische Standards richten sich natürlich in erster Linie an das Fachpublikum innerhalb des Wissenschaftsbetriebs. Aber auch die Schnittstelle zur breiten Öffentlichkeit wird dadurch bereichert. Tiefgehende semantische Verknüpfungen etwa in Wikidata schlagen sich in qualitativ höherwertigen Artikeln in der Wikipedia nieder. Fachübergreifende Dienste können Informationen aus verschiedenen Wissensgebieten und Datenbanken über einheitliche Schnittstellen aggregieren (Stichwort Knowledge Graphs), um beispielsweise ein interdisziplinäres Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Wenn verschiedene Daten oder Dienste rechtlich und technisch offen verfügbar gemacht werden, sind diese Effekte dann nicht additiv, sondern multiplikativ – das Ganze ist dann im wahrsten Sinne des Wortes mehr als die Summe seiner Teile.

Frage: Lassen wir dich mal so richtig träumen: Wie würde deine ideale Wissenschaftslandschaft in Bezug auf Open Science aussehen? Welche Services, Programme, Plattformen, Daten, Archive und Produkte sollten bzw. dürften in deiner Vision offen zugänglich sein, und was würde dadurch besser werden?

In der perfekten Welt würden sämtliche aus öffentlichen Geldern finanzierten Forschungsergebnisse nur noch Open Access publiziert und der wissenschaftlichen Community sowie der interessierten Öffentlichkeit kostenlos oder nur gegen ein geringes Aufwandsentgelt zur Verfügung gestellt. Das gilt für klassische Publikationen ebenso wie für neuere Formen wissenschaftlichen Outputs wie Software, Simulationsdaten, formalisierte Mathematik und Ähnliches. Diese müssen nachvollziehbar katalogisiert, versioniert und ausfallsicher vorgehalten werden. Offene Standards stellen sicher, dass sie die FAIR-Kriterien erfüllen (findable, accessible, interoperable, reusable – auffindbar, zugänglich, kompatibel und nachnutzbar) und so allen Teilnehmenden im Wissenschaftsbetrieb bei der kollaborativen Arbeit zur Verfügung stehen. Gewinnen tun dadurch letztendlich wir alle als Gesellschaft in Form von effizienteren, kostengünstigeren, nachhaltigeren und nicht zuletzt gerechteren Forschungsprozessen.

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Das Interview mit Fabian Müller führte Franziska Kretschmer. Mehr Informationen zu zbMATH Open finden Sie hier. FIZ Karlsruhe vertritt eine Open-Access-Policy. Diese finden Sie hier.